Alle diese Menschen fehlen uns

Der Widerspruch in der DDR muß produktiv gemacht werden / Von Christa Wolf  ■ D O K U M E N T A T I O N

Meine Erinnerung an die ersten Kriegstage habe ich aufgeschrieben, ich möchte mich nicht wiederholen. Andererseits: Gerade in den aktuellen Ereignissen um diesen Jahrestag herum, in dem starken, heftigen Geschiebe der Zeit -Schollen, drängen ältere, noch geschichtsmächtige Schichtungen nach oben, es ergeben sich unvorhergesehene Verknüpfungen zwischen jener noch nahen Vergangenheit und der Gestaltung unserer unmittelbaren Gegenwart, weitere zeichnen sich ab. An einem Abend wie diesem kann ich über den 1. September 1939 nicht nur als über ein historisches Datum sprechen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich schon in der Lage bin, die permanente Unruhe zu artikulieren, in die die allerjüngste Zeitgeschichte mich versetzt.

So könnte ich von einer Reihe geschichtlicher Ereignisse, deren stark interessierte, irregeleitete und unreife Zeugin ich als Kind und sehr junges Mädchen wurde, Linien in unsere Tage ziehen. Nehmen wir also den Kriegsanfang, den Überfall auf Polen. In einem Kriegsrausch waren die Deutschen nicht, auch bei uns zu Hause war die Stimmung gedrückt.

An der „Heimatfront“ hatten inzwischen die Medien - allen voran der „Reichsrundfunk“ - der lauen Stimmung aufzuhelfen mit den Fanfaren der Sondermeldungen, nach denen man süchtig wurde, die ein leichtes Dauerfieber erzeugten, eine Hochgestimmtheit und Siegesseligkeit, die die berechtigte Kriegsfurcht der meisten wegspülte, ihren ohnehin geschwächten Realitätssinn noch mehr betäubte, die eingebildeten und wirklichen „Schlappen“ und Demütigungen tilgte, die ihr unstabiles, daher übersteigertes und leicht kränkbares Nationalgefühl seit dem Ersten Weltkrieg erlitten hatte, und ihr Schicksal endgültig, auf Gedeih und Verderb, an das eines wahnsinnigen Verbrechers kettete.

Wie schwer es ist, eine solche unheilvolle Identifikation wieder aufzulösen, weiß ich aus eigener Erfahrung, doch eben das war nach dem Zusammenbruch der nationalen Identität der Deutschen am Ende des Krieges eine der dringlichsten Aufgaben. Heute erfahren wir in beiden deutschen Staaten, inwieweit es geglückt ist, der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration Identifikationsangebote zu machen, die sie akzeptieren; das hängt auch davon ab, inwieweit diese Staaten ein Problembewußtsein für ihre eigene nun schon vierzigjährige Geschichte entwickelt haben und weiter fördern. Soweit ich sehen kann, ist in der Bundesrepublik der Generation der Täter und Mitläufer Trauer, Reue, Scham weitgehend erspart geblieben, ja sogar ausdrücklich erlassen worden - aus Gründen ihrer Wiederverwendbarkeit im kalten Krieg.

Und doch hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß sich auf deutschem Boden fünfzig Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen Kräfte in legal zugelassenen Parteien formieren könnten, die eine nennenswerte Zahl von Wählern hinter offenbar immer noch nicht unaussprechlichen, aber unsäglichen Losungen versammeln: „Schlesien bleibt unser“? „Das deutsche Reich in den Grenzen von 1937“? „Mitglieder des Nationalkomitees 'Freies Deutschland‘ - Verräter“?

In den Jahren der Gründung der DDR ist in unserem Teil Deutschlands die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus kompromißlos und gründlich geführt worden, und gerade diese Phase der Nachkriegsentwicklung hat die allmähliche Identifikation von uns damals jungen Leuten mit der späteren DDR und mit jenen revolutionären Traditionen aus der deutschen Geschichte begründet, auf die sie sich berief und die in der Bundesrepublik unter Adenauer negiert oder bekämpft wurden.

Von einem bestimmten Punkt an, der natürlich nicht mit einer Jahreszahl zu benennen ist, hat die sehr kleine Gruppe deutscher Antifaschisten, die das Land regierte, ihren Anspruch, die Folgen des Nationalsozialismus überwunden zu haben, auf den ganzen Staat und dessen Bevölkerung ausgedehnt; ich glaube, daß der Widerspruch zwischen diesem öffentlichen Anspruch und der Gegenerfahrung in der Familie und im Alltag in den jungen Menschen, die jetzt in der DDR aufwuchsen, Leerstellen, Ratlosigkeit, das Gefühl erzeugt haben, mit wichtigen Fragen allein gelassen zu werden. Die Literatur unternahm es, oft gegen einen beträchtlichen Widerstand der offiziellen Politik, diese vagen Leerstellen auszufüllen mit der Darstellung der konkreten Realität, mit der Evozierung der Widersprüche, welche aus der Geschichte in die Gegenwart dieses Landes hineinwirkten; zunehmend bekamen wir es als Bürger der DDR und als Schriftsteller mit jenen Widersprüchen zu tun, die aus unerledigten Problemen in der Geschichte der deutschen Kommunistischen Partei und aus der unvermeidlichen Übernahme stalinistischer Strukturen und Denkweisen in diesem ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden erwuchsen. Da viele von uns keine Alternative sahen, haben wir, auch ich, versucht, in zähen, oft aufreibenden Auseinandersetzungen - wir Autoren mit Mitteln der Literatur, auf die wir uns zeitweilig zurückverwiesen sahen - Veränderungen auf einen demokratischen Sozialismus zu immer wieder einzufordern und dabei die Bindung, die wir eingegangen waren, die uns mit geprägt hat, auch über oft zerreißende Konflikte hin, nicht abzubrechen. Schlagartig haben die Reformen, die Michail Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleitet hat, die Zahl der Menschen in der DDR erhöht, die eine Umgestaltung auch in ihrem Land erhoffen - wenn die auch ganz anders aussehen müßte als die in der UdSSR, in Ungarn oder in Polen, denn keines dieser Länder hat aufgrund seiner Geschichte und seiner geographischen Lage derart komplizierte Gegebenheiten zu berücksichtigen wie die DDR.

Spreche ich noch, wovon ich sprechen soll? Ich spreche von den Linien, die aus der jüngsten deutschen Vergangenheit in die Gegenwart reichen; ich spreche von den immer noch, sicher lange noch anhaltenden Folgen des deutschen Faschismus und des Krieges, in den er Europa gestürzt hat, und da erscheint es mir unerläßlich, jene westdeutschen Fernsehbilder nicht auszusparen, die uns in letzter Zeit Scharen junger DDR-Bürger zeigten, die, ihre nagelneuen bundesdeutschen Pässe schwenkend, über die ungarisch -österreichische Grenze liefen. Ich glaube, es sollte jemand, der in der DDR lebt, öffentlich sagen, und ich will es tun, daß dieser Vorgang mich schmerzt, daß alle diese Menschen uns fehlen, und daß ich es tief bedauere, daß die Verhältnisse in der DDR diesen jungen Leuten anscheinend keine wie immer streitbare, konfliktreiche Identifikation mit diesem Staat, und sei es im Widerspruch, ermöglicht haben. Gerade der Widerspruch aber muß künftig in der DDR nicht nur geduldet, er muß produktiv gemacht werden als Mittel der Erkenntnis für die vorhandenen, öffentlich immer noch geleugneten Probleme und als Mittel zu ihrer Lösung. Ich denke, dieser notwendige Prozeß müßte beginnen mit einer anderen realitätsbezogenen Sprache in den Medien der DDR, und ich glaube zu wissen, daß es in der DDR genug Menschen gibt, alte und junge, denen die Wahrheit zumutbar ist und die nur darauf warten, ihre Vorstellungen von einem sozialistischen deutschen Staat in die Diskussion einzubringen und sie mit zu verwirklichen. So, und nur so kann eine auf Dauer stabile DDR entstehen, die ich für wünschenswert halte, nicht zuletzt, weil sie wichtig ist für den Reformprozeß in der Sowjetunion, von dem für uns alle soviel abhängt - unter anderem, nein: vor allem anderen die Sicherheit, daß der Tag, an den wir uns heute erinnern, der letzte Tag gewesen ist, an dem in Europa ein Land ein anderes überfiel und einen Krieg begann. Dies sollten auch diejenigen bedenken, die den Dialog der Vernunft, der innerhalb der Staaten und zwischen den Staaten dringend nötig ist, durch das Anheizen von Emotionen, durch die Erzeugung eines leichten Dauerfiebers zu stören versuchen.

Den hier in Auszügen wiedergegebenen Text, zum 50. Jahrestag des Kriegsbeginns entstanden, hielt die DDR -Autorin als Vortrag zu einem Symposium der „Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg“ in Ascona