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Groß und klein

■ Pierre Bourdieu, Autor der „Feinen Unterschiede“, erzählt, was er mit der europäischen Literaturbeilage 'Liber‘ vorhat

Zur Buchmesse erscheint 'Liber‘, die erste europäische Literaturbeilage, die in identischer Aufmachung in Großbritannien, Frankreich, Italien und der Bundesrepublik erscheinen wird. Europäische Kultur in einer Million Exemplaren. 'Liber‘ geht zurück auf die Initiative des Pariser Soziologen Pierre Bourdieu, der auch dem Herausgeberkreis vorsitzt. 'Liber‘ wird als Beilage in den Zeitungen 'Le Monde‘ (Frankreich), 'Frankfurter Allgemeine Zeitung‘, 'The Times Literary Supplement‘ (Großbritannien) und 'L'Indice dei Libri del Mese‘ (Italien) erscheinen. Sitz der Redaktion ist Paris. In diesem Jahr werden zwei Ausgaben erscheinen, die erste anläßlich der Frankfurter Buchmesse am 11.Oktober, einige Tage vorher in Großbritannien und Frankreich. Alexander Smoltczyk sprach mit Pierre Bourdieu in Paris.

taz: Sie haben Großes vor. Eine Literaturbeilage, die gleichzeitig in vier europäischen Ländern erscheint, und das in einer Auflage von einer Million Exemplaren. Glauben Sie, daß die sozio-intellektuellen Strukturen in Europa schon genügend entwickelt und ent-nationalisiert sind, um 'Liber‘ erfolgreich werden zu lassen?

Pierre Bourdieu: Das ist genau die Frage. Ich glaube, sie sind es noch nicht. Deswegen habe ich ein Projekt wie 'Liber‘ immer für unmöglich gehalten und halte es immer noch für unmöglich, bis ich das erste Heft tatsächlich am Kiosk hängen sehe. Es gab sehr viele Schwierigkeiten. Nur dank der außerordentlichen diplomatischen Fähigkeiten von Gian Giacomo Migone von 'L'Indice‘ und der Unterstützung von Schirrmacher ('FAZ‘) haben wir die Schwierigkeiten überwinden können.

Welche Schwierigkeiten waren das?

Zum einen die Unterschiede der intellektuellen Traditionen, die sich als viel größer herausgestellt haben, als ich dachte, zum anderen die finanziellen, werbepolitischen Probleme. Es ist schon ein Wunder, daß wir eine erste Nummer für Oktober produziert haben. Sie ist nicht so gut, wie wir alle es gewünscht hätten, wir sind alle ein wenig enttäuscht, es ist eher eine Null-Nummer. Wir haben eine geringe Seitenzahl und die Werbung nimmt einen großen Teil des Platzes ein, weil die Herausgeber-Zeitungen das Projekt nur akzeptiert haben, wenn die Kosten aus Werbeeinnahmen gedeckt werden könnten. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich glaube in der Tat, daß die intellektuellen Traditionen, die mentalen sowie institutionellen Strukturen sehr weit von dem Zustand entfernt sind, den ein solches Projekt erfordern würde. Ich habe das Projekt in der Absicht vorgeschlagen, daran etwas zu ändern.

Mir ist es sehr wichtig, neben der Zeitschrift 'Liber‘ eine europäische Vereinigung von Intellektuellen und Wissenschaftler zu gründen. In Turin haben wir unter der Leitung von Gian Giacomo Migone ein Kolloquium dazu abgehalten, an dem von Jacques Derrida bis Eric Hobsbawm alle vertreten waren. Die Italiener wurden damit beauftragt, diese Vereinigung vorzubereiten.

Eine Ober-Redaktion von 'Liber‘?

Nein, es wird eine unabhängige Vereinigung sein, die sich natürlich auf 'Liber‘ stützen wird. Wissen Sie, seit Jahren muß ich immer wieder feststellen, wie unorganisiert die Intellektuellen sind, wie sie in Konkurrenz zu einander stehen und nicht ihre allgemeinen Interessen sehen. Es geht darum, möglichst viele Verbindungen zwischen ihnen zu schaffen, ohne einem Zentralismus zu verfallen. Eine Zentrale mit Sprechern etc. wäre eine Katastrophe, und keiner möchte so etwas. Unsere Idee ist, eine ganze Reihe von unabhängigen Netzwerken zu schaffen, die miteinander verbunden sind. 'Liber‘ wäre darin eine Ausdrucksmöglichkeit. Die Vereinigung könnte auch Druck ausüben, damit 'Liber‘ größer wird.

Bedarf es dieses Drucks?

Um ehrlich zu sein, ich glaube, daß ich Druck nötig haben werde, um die Herausgeber-Zeitungen etwas wagemutiger werden zu lassen.

Bei welcher Zeitung ist es mit Wagemut am schlechtesten bestellt?

Keine im besonderen. Zum ersten Mal habe ich über das Projekt vage mit Siegfried Unseld in Frankfurt gesprochen, zusammen mit Habermas. Damals dachten wir, es gäbe nur zwei Möglichkeiten. Entweder macht man diese Zeitschrift mit einem internationalen Redaktionskomitee in einem einzigen Land (und ich dachte anfänglich, Unseld und Suhrkamp hätten dies vor). Dabei ist die Gefahr, daß die Zeitschrift nur in einem Land gelesen wird und im Grunde national bleibt.

Daraufhin ist mir der Gedanke gekommen, verschiedene Zeitungen zusammenzubringen, sodaß es schon auf der Ebene der Konzeption zu einer internationalen Auseinandersetzung kommen muß. Das ist natürlich sehr viel riskanter, aber gleichzeitig schon von Anbeginn ein internationales Projekt. Nun ist es in allen internationalen, bürokratischen Organisationen sehr einfach, nein zu sagen. Man schickt Artikel herum, und irgendeiner hat immer etwas daran auszusetzen. Die Engländer halten einen Text über Heidegger für zu kompliziert, die Deutschen einen über Hesiod für etwas antiquiert, etc. Das ist mühsam, aber es muß so funktionieren, damit etwas in Bewegung kommt. Die Intellektuellen haben sich immer nur als „fellowtravellers“ anderer mobilisiert, sie haben keinerlei Tradition, sich zu mobilisieren, um etwas gemeinsam zu machen.

Die europaweite Institutionalisierung des Mandarinats? Wird es da für junge, unbekannte Autoren und Wissenschaftler noch einen Platz geben?

Ich mache ständig Druck in diese Richtung. Die Reflexe der Zeitungsmacher sind so, daß sie sofort begeistert sind, wenn Eric Hobsbawm im Angebot ist. Wenn sie aber einen Herrn Soundso anschleppen, heißt es: der ist noch jung, da weiß man ja nicht, usw. Das ist ein sehr großes Problem. Meine Absicht war deswegen, abzuwarten, bis sich die Herausgeber -Zeitungen gefunden hätten, und mich dann zurückzuziehen, denn so wie ich die Intellektuellen kenne, haben sie immer Angst, daß einer dominiert. Nach dem Muster: wenn der da mitmacht, wird jener nicht mitmachen usw. Ich bin dann nur geblieben als Repräsentant des intellektuellen Milieus, und um gewisse Werte gegen die journalistischen Werte zu vertreten. Ich habe gerade einen Brief an alle anderen geschrieben, in dem ich sage, daß wir in Zukunft Quoten haben müssen, damit es mehr jüngere Autoren und mehr riskantere Texte gibt. Es ist so einfach für diese großen Zeitungen, jeden noch so berühmten Autor zu bekommen, daß die kleinen Namen automatisch ausgeschlossen werden. Deswegen ist mir der Druck der Intellektuellen von außen so wichtig.

Nun haben wir mit viel Mühe eine deutsche Ausgabe von 'Lettre International‘ auf den Markt gebracht, die vom naturgemäß begrenzten Anzeigenmarkt abhängig ist. Angesichts der Tatsache, daß 'Liber‘ schon für zwei Jahre im voraus Anzeigen akquirieren konnte, könnte Ihr Großprojekt das Ende der kleineren Kulturzeitschriften zur direkten Folge haben...

Das wäre eine Katastrophe. Aber ich glaube nicht daran. Es gibt so viele Anzeigenkunden. Wir haben mehr Anzeigen, als wir unterbringen können. Das weitaus größere Problem ist, Leute zu finden, die gute Sachen schreiben. Das war ein Hauptgrund für mich, die transnationale Lösung zu bevorzugen: eine Zeitschrift zu entwickeln, die es mit den Amerikanern aufnehmen, die dem Monopol entgegenwirken kann, das Zeitschriften wie 'New York Review of Books‘ auf die Produktion ausüben. Wir brauchen eine Produktion auf europäischem Niveau. In Frankreich sind mindestens drei Viertel aller Texte reine Gefälligkeits- und Abschreibearbeiten. Mit einem europäischen Netz wird Abschreiben wesentlich schwieriger, und das Qualitätsniveau wird steigen. In Frankreich gibt es vielleicht einen Autor, der eine soziolinguistische Neuerscheinung angemessen rezensieren könnte, in Europa findet man sofort zehn. Es geht darum, die großen Namen zu mobilisieren, daß die sich in den Dienst der kleinen stellen.

Qualifizierte Themen statt majestätische Namen?

Voila. Ich will gute Autoren, in dem Sinn ist auch das Editorial für die Oktober-Nummer geschrieben. Die jungen Intellektuellen sollen wissen, daß sie gemeint sind und sollen sich der Zeitschrift bedienen.

Wird in der 'FAZ‘ also bald eine eingehende Studie zur Ethnographie der Riff-Kabylen zu lesen sein?

Ich glaube, so etwas kann möglich sein. Die großen konservativen Blätter sind meist sehr liberal auf ihren Kulturseiten, weil sie die Jungen und die Intellektuellen anziehen wollen. Und die FAZ hat immerhin den besten Kulturteil in Europa. Ich denke nicht, daß es Zensur geben wird. Sonst hätte ich nicht mitgemacht.

Wie wird denn die Zusammenarbeit zwischen den doch sehr verschiedenen Herausgeber-Zeitungen ablaufen? Wird es regelmäßige Treffen geben oder entscheidet die Pariser Redaktion?

Nein, wir wollten zwei Fehler vermeiden. Zum einen ein zentrales Büro, das sich um alles kümmert, genauso aber eine Flickenteppich-Zeitung, zu der jeder einzelne Herausgeber sein Teil beisteuert. Europäische Projekte sind meistens das eine oder das andere. Unser Ziel ist eine Art Freundeskreis von vier oder fünf Personen, die die verschiedenen Zeitungen repräsentieren und sich regelmäßig, mindestens einmal pro Ausgabe, treffen. Die Rolle dieses Zentralbüros wäre eher eine anregende, denn eine kontrollierende. Also ein Austausch darüber, wo es zu welchem Thema denn einen Autor gibt, usw.

Die fünf Freunde müssen aber nicht unbedingt Ferenczi, Schirrmacher, Migone, Treglown und Bourdieu heißen?

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch so. Ich glaube, daß es sich ändern müßte, weil diese Leute mit ihrer sonstigen Arbeit schon sehr beschäftigt sind. Man könnte sich auch vorstellen, Außenstehende zu bestimmten Fragen einzuladen.

Verstehen Sie 'Liber‘ eher als Plattform einer wie auch immer aussehenden „europäischen Sicht“ der Dinge oder, weil es Mühe macht, an ein Charakteristikum „Europa“ in Geistesdingen zu glauben, als Forum des Austauschs völlig verschiedener Sichten der Welt?

Die Nationalismen sind noch sehr, sehr stark - manchmal schockierend stark. Nicht nur der banale Ethnozentrismus, der nicht beachtet, was nicht innerhalb bestimmter Grenzen stattfindet. Es gibt auch intellektuelle Traditionen, die zu starkem Argwohn führen. Die Angelsachsen haben die Franzosen im Verdacht, nicht seriös genug zu sein, die Franzosen glauben von den Deutschen, gleichzeitig pedantisch und auf falsche Weise tiefschürfend zu sein, usw. Oder - andersherum - stürzen sich die jüngeren Intellektuellen systematisch auf alles ausländische, um sich gegen ihre eigenen Mandarine abzusetzen. „Europäisch“? Das ist mir schnurz, das gibt es nicht. Mir geht es darum, die intellektuelle Universalität auf ein höheres Niveau zu bringen. Es ist schon viel gewonnen, wenn in Paris, Berlin, London über ungefähr das Gleiche gesprochen wird.

Warum dann nicht auch in Tokio und Berkeley?

Selbstverständlich! Aber irgendwo müssen wir anfangen.

Welche Themen werden in der ersten Nummer enthalten sein?

Nun, es sind diesmal vor allem junge Autoren. Roger Chartier beispielsweise, der über neue Gegenstände der Geschichtswissenschaft schreibt. Bisher haben sich die Historiker um die Inhalte von Dokumenten gekümmert, und Chartier regt an, auch die Form, den Druck, das Papier etc. zu berücksichtigen. Und eine junge, hervorragende Juristin Mireille Delmas-Marty, die über das europäische Recht schreibt, gleichzeitig wissenschaftlich und politisch. Das ist ein Artikel, der das repräsentiert, was ich mir für diese Zeitschrift wünsche: Jemand, der durch seine Kompetenz, nicht durch seinen großen Namen, Probleme entwickelt, die eine Intervention der Intellektuellen verlangen. Dann wird es einen Artikel von Norberto Bobbio geben, dem italienischen Politologen, einen Text von Kagarlitzky, einem großen russischen Intellektuellen über die Erfahrung des Prager und des Moskauer Frühlings. Adam Michnik schreibt über die Art, wie Solidarnosc Gorbatschow wahrgenommen hat - ein ziemlich außergewöhnliches Dokument. Wir haben einen Text von dem sehr wichtigen rumänischen Dichter Dinescu, ein sehr, sehr gutes Stück eines DDR-Autors über Heinrich Böll. Wir wollen in jeder Nummer ein Porträt eines großen Intellektuellen bringen, und ich fand es wichtig mit Böll anzufangen.

Von Ihnen wird kein Text erscheinen?

Doch, eine Studie über die Differenzierung der Geschlechter anhand von Virginia Woolf.

Wäre eine mikroskopische Studie a la Roland Barthes Ihr Ideal eines 'Liber'-Textes?

'Liber‘ ist natürlich im Kern, auch wenn das bei der ersten Nummer mit ihren vielen kleinen Essays, nicht deutlich genug wird, eine Zeitschrift, in der Bücher rezensiert werden. Möglichst dergestalt, daß beispielsweise ein bekannter Franzose über das Buch eines völlig unbekannten Deutschen schreibt. Und umgekehrt. Für die nächste Nummer haben wir eine Kritik der Studien von Hobsbawm und Kocka über die europäischen Bourgeoisien geplant, und eine Bilanz der Arbeiten, die in Osteuropa über die Juden Zentraleuropas gemacht worden sind.

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