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Der allmächtige Rausch von genetischen Träumen

■ Genokratischer Weltstaat könnte zur Wirklichkeit werden - eine Geschichte gentechnischer Utopien vom sozialen Fortschritt Naturwissenschaftliche Optik unterschätzt jedoch die wirtschaftlichen und politischen Kräfte, welche hinter diesen Phantasien stehen

Die üppig ausgestattete Delphi-Reihe des Greno-Verlags, in die Die Träume der Genetik aufgenommen wurden, vermag schon vom Erscheinungsbild her zunächst zu gefallen und erweckt nicht geringe Erwartungen.

Auf den ersten Blick werden diese auch inhaltlich erfüllt: In einer ausführlichen Einleitung wird die Entwicklung der Molekularbiologie und Humangenetik in diesem Jahrhundert skizziert. Ein Exkurs führt auch in die Genetik und Eugenik der Sowjetunion. In einem zweiten Teil werden wichtige Dokumente wiedergegeben und eingeleitet von Eugenikern und Genetikern, die in diesem Entwicklungsprozeß eine bedeutende Rolle spielten, wie Alfred Plaetz, Hermann Joseph Muller oder Joshua Lederberg. Interessante Bilddokumente, eine umfangreiche Bibliographie sowie ein Glossar nebst einem Personenregister runden den Band ab und gestalten ihn benutzerfreundlich.

Doch je intensiver sich der Rezensent in das Buch vertiefte, um so mehr machten sich Zweifel breit, ob sein Grundanliegen, nämlich die Träume der Genetik nicht nur zu dokumentieren, sondern zu erklären und einem kritischen Urteil zu unterwerfen, wirklich erreicht worden ist.

Beklagt der Autor auch zu Recht die in zahlreichen Publikationen fast durchgängig zu findende „herrschende Geschichtslosigkeit in den Darstellungen und Debatten zur Gen- und Fortpflanzungstechnik“, so trägt er doch selbst bei zu einer Fortführung derartigen Denkens. Zwar stellt er fest, daß es „eine lohnende und zugleich immense Aufgabe (wäre), die vielfältigen Wurzeln dieser Träume in der Sozialgeschichte dieses und des vorigen Jahrhunderts darzustellen“, sieht sich aber selbst hierfür als überfordert an. Wichtige Werke wurden nicht herangezogen

Bei einer derartigen Beschränkung läuft Weß natürlich Gefahr, sich im Vordergründigen zu verlieren. Ein Blick auf die umfangreiche Literaturliste des Bandes offenbart nicht nur, welche Werke der Verfasser als „einschlägig“ herangezogen hat, sondern sie gibt auch Aufschluß über den blinden Fleck des Autors, der durchaus ansehnlich ist. Offensichtlich ist der Verfasser trotz kritischer Ansätze noch so sehr im engen naturwissenschaftlichen Denken befangen, daß ihm der Zugang zu wichtigen Fragen schlicht versperrt geblieben ist.

So fehlen wichtige Arbeiten etwa zum Sozialbiologismus (z.B. Marten) ebenso wie zum Bereich der Eugenik (z.B. Schmuhl). Einer Erklärung bedarf es auch, warum etwa die Arbeit Binding/Hoche über die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens aus dem Jahr 1920, sowie weitere nicht erwähnt werden. Auch grundlegende wissenschaftskritische Literatur, wie die etwa von F.Wagner (Weg und Abweg der Naturwissenschaften) und J.Ravetz (Die Krise der Wissenschaft) sowie einschlägige erkenntnistheoretische Arbeiten (z.B. G.Vollmer, F.Wuketits) werden nicht nachgewiesen. Das hat für die inhaltliche Qualität eine erheblich Relevanz.

Dies möchte ich mit einem Zitat des Nestors der deutschen Atomwissenschaft, Max Born, verdeutlichen: „Die Naturforscher selbst sind eine unansehnliche Minderheit; doch die eindrucksvollen Erfolge der Technik verleihen ihnen eine entscheidende Stellung in der Gesellschaft. Sie sind sich einer höheren objektiven Gewißheit bewußt, die durch ihre Denkweise erreichbar ist, aber sie sehen ihre Grenzen nicht. Ihre politischen und sittlichen Urteile sind daher oft primitiv und gefährlich.“ Gefahr einer erneuten Legendenbildung

Mit dieser Meßlatte, so meine ich, hätte die Arbeit erheblich an Tiefenschärfe gewinnen können. Auch hätte sie noch um Aspekte der grundsätzlichen Technikentwicklung nebst ihrer Einbettung in Herrschafts- und Machtverhältnisse erweitert werden müssen. Bei der vom Autor gewählten Anlage besteht die Gefahr, daß sie einer erneuten Legendenbildung Vorschub leisten kann.

Es sind nicht allein die Vorstellungen einer „unansehnlichen Minderheit“ maßgebend, die eine gesellschaftliche Entwicklung determinieren. Relevant ist vielmehr ein Bündel von ganz unterschiedlichen Einflußfaktoren und Bedingungszusammenhängen, die den Zeitgeist - auch den der „Naturforscher“ - speisen. Wer über die geistige und soziale Lage eines Landes oder einer bestimmten Epoche einen zureichenden Überblick erhalten will, sollte sich zudem nicht auf die Einschätzung begabter Dilettanten beschränken, sondern zumindest als Hintergrund die literarische Verarbeitung mit skizzieren. Einzelne Hinweise, wie die etwa auf G.Hauptmann, genügen da meines Erachtens nicht.

Doch selbst wenn wir auf der Argumentations- und Betrachtungsebene des Autors bleiben, sind einige kritische Anmerkungen vonnöten. So hätte ich mir beispielsweise gewünscht, daß auch die Träume der Genetik etwa zum Arbeitnehmerscreening und zur Frage der Identifizierung von „Anfälligen“ und Kriminiellen zumindest dargestellt werden. Auch Hinweise auf die gegenwärtige Diskussion in der Humangenetik der Arbeitsmedizin und der Genomanalyse im Strafrecht und die mögliche zukünftige Entwicklung wären grob skizziert - in der Einleitung nicht unangebracht gewesen.

Konvergenztheorie kommt spät zu ihrem Recht

Indes ist der Band gleichwohl zu empfehlen. Schon deshalb, weil nunmehr eine kommentierte auszugsweise Dokumentation einschlägiger Quellentexte vorliegt. Nicht unwichtig erscheint mir, daß der Autor auch die Problematik der „sozialistischen Eugenik“ herausgearbeitet und dokumentiert hat. Möglicherweise wird in den nächsten Jahrzehnten die Konvergenztheorie zwischen Ost und West gerade in diesem Bereich ihre überraschende Bestätigung erfahren und die Befürchtung F.Wagners von der Gefahr eines genokratischen Weltstaates neue Nahrung erhalten. Das EG-Programm „Prädikative Medizin“ zeigte ja schon unzweifelhaft die supranationale Komponente.

Wenn auch zahlreiche „Träume“ der Genetik in ihrem Kern eher von psychoanalytischer Relevanz sind, die einen Allmachtswahn widerspiegeln, so dürfen doch die politischen und wirtschaftlichen Kräfte, die hinter diesen Phantasien stehen, nicht unterschätzt werden.

Denn die sozialen Spannungen in vielen Gesellschaften werden zunehmen, und der Traum von der Endlösung ist nicht lange nicht ausgeträumt. Eugenische Gedankengänge auch in ihren harmlosesten Verkleidungen erkennen und identifizieren zu können, dies wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein. Dazu leistet der Band einen beachtlichen, wenn auch nicht gänzlich ausreichenden Beitrag. Bernd Klee

Bernd Klees ist Professor für Arbeits- und Sozialrecht und als dezidierter Kritiker der Genetik bekannt.

Ludger Weß (Hrsg.): Die Träume der Genetik. Gentechnische Utopien vom sozialen Fortschritt. Greno-Verlag, Nördlingen 1989, 36 DM.

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