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Wiedervereinigung an der Bahnsteigkante

Lange Nacht in Hof: Hunderte von Journalisten und zahlreiche Schaulustige warteten eine Nacht auf dem Hofer Bahnhof auf das Eintreffen der rund 8.000 „Brüder und Schwestern“ / Generalstabsmäßiges „Abschöpfen von Überkapazitäten“  ■  Aus Hof Bernd Siegler

Liebe deutsche Landsleute, ich begrüße Sie im freien Teil Deutschlands.“ Horst Waffenschmidt, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium ist froh, diese Floskel endlich am Donnerstag morgen um 5.48 Uhr über den Lautsprecher des Hauptbahnhofs loszuwerden. Der erste Sonderzug mit über 1.000 Flüchtlingen aus Prag ist gerade auf Gleis 8 eingefahren. Der Bahnsteig ist taghell vom Scheinwerfer der Fernsehteams. Über 100 in- und ausländische Journalisten sind erleichtert, daß das lange Warten ein Ende hat. Jetzt kommen endlich die Objekte ihrer Begierde, die zu Statisten degradiert werden, vor deren Bildern Bundeskanzler Kohl vieldeutig über das „Ende eines Stücks Nachkriegsgeschichte“ sinnieren kann.

„Das ist ja Wahnsinn, ein Jubel ist das, die sind glücklich“, schreit ein Rundfunkreporter ins Mikrophon und reagiert damit seinen Frust über das stundenlange Warten ab. In der Nacht zum Mittwoch laufen die Vorbereitungen für den großen „Flüchtlingstreck“ in Hof generalstabsmäßig ab. Bundeswehr und Technisches Hilfswerk sind alarmiert, Notunterkünfte für insgesamt 15.000 Menschen stehen bereit. Die Stellenangebote sind plakatiert. Metzger in München und Polsterer in Oberbayern haben gute Chancen, aber auch „griechisch-römische oder Freistilringer“ sind beim ASV Hof begehrt. Berge von gespendeten Kleidern werden von Helferinnen sortiert, die das „gern machen“.

Als sich der erste Zug mit 22stündiger Verspätung um 18 Uhr 23 in Prag in Bewegung setzt, haben die Organisatoren endlich ihre Planungsgrundlage. Jetzt kommen die großen Stunden von Horst Waffenschmidt. Lange Zeit ist er der einzige, der mit Pressekonferenzen den wartenden Journalisten ein Minimalprogramm bietet. Um 23 Uhr, als eigentlich der erste Zug in Hof einrollen sollte, vermeldet er selbstbewußt, es werde „nach den neuesten Informationen“ wohl zwei Uhr werden. Die letzte Fragerin irritiert ihn aber doch. Laut Informationen der DDR-Reichsbahn soll demnach der erste Zug erst gegen sechs Uhr morgens in Hof ankommen. Warten bis zum Morgengrauen ist vielen Hofern, die das Live -Szenario im Hauptbahnhof der TV-Serie Denver-Clan vorgezogen haben, denn doch zuviel. Die meisten gehen nach Hause. So auch zwei Rentner-Ehepaare, die kurz zuvor noch „die deutsche Frage“ diskutiert haben. „Die Wiedervereinigung wäre halt doch das beste, die Deutschen sollen sich halt vertragen“, meint die eine, während die andere gegen zwei Staaten nichts einzuwenden hätte. „Die sollen doch nur die Grenzen aufmachen, jeder geht doch wieder gern in die Heimat zurück.“ Ihr Mann befürchtet, da werden wohl viele, die es sich bei uns so leicht vorgestellt haben, enttäuscht sein. „Vor allem mit unserem Arbeitstempo hier“, pflichtet ihm seine Gattin bei. Stolz schwingt in ihrer Stimme mit.

In der Zeit bis sechs Uhr morgens machen sich die Medien mangels Alternativen selbst zum Thema. Plötzlich setzt jedes Fernsehteam die auf den Bänken des Wartesaals schlafenden Journalisten ins Bild.

Kurz vor vier Uhr kann Waffenschmidt wieder „neueste Informationen“ vermelden. „Fünfuhrachtunddreißig“ heißt das neue Zauberwort, innerhalb von nur einer Stunde würden vier Züge eintreffen. Im Umgang mit Menschenmaterial haben die deutschen Technokraten Erfahrung. Jetzt geht es nur noch um „Versorgung“, „Aufrechterhaltung der parallelen Abfertigung“, um Menschen, die die „Kapazität der Züge negativ belasten“ (sprich überfüllte Züge). Diese „Überkapazitäten“ würden „abgeschöpft“, das heißt, sie werden in Hof untergebracht. In der mit Feldbetten gefüllten Hofer Freiheitshalle (!) steht dann statt der „Lustigen Musikanten“ und der „Flippers“ das Stück „Die Erlösung“ ('Bild'-Zeitung) oder „Der Zug in die Freiheit“ (ZDF- und ARD-Jargon) auf dem Programm.

„Wir wollen keine Lenkung, keine Absperrung.“, gibt Waffenschmidt um kurz vor fünf Uhr die Losung aus. „Wir wollen“, konkretisiert er seinen Freiheitsbegriff, „am Bahnsteig eine offene Begegnung unter Berücksichtigung der Sicherheitslage“. Salzstängchen, Kekse, Gummibärchen und Bananen werden für die Übersiedler bereitgestellt. Bundeswehrsoldaten stellen sich noch schnell für die Fotografen vor den Gulaschkanonen in Positur, die Zigarettenverteiler der Marke „West“ (!) bereiten sich auf den Ansturm vor. Auch ein 24jähriger Schreiner aus Hof kommt jetzt zu seinem Auftritt. Sein Transparent „Hof begrüßt seine neuen Mitbürger“ wird von Fotografen und Fernsehteams begeistert abgelichtet. Dann nur noch Tränen, Jubel, Sekt und Eintopf. „Wir sind glücklich, endlich in Freiheit zu sein“, notieren Hunderte von Journalisten.

Am Donnerstag mittag ist das Spektakel zu Ende, das die Stadt Hof zum „Tor in den Westen“ ('Frankenpost‘) gemacht hat. Rund 8.000 ÜbersiedlerInnen sind bis dahin per Bahn angekommen und auf Notunterkünfte verteilt.Die Hoteliers reiben sich ebenso die Hände wie die Würstchenverkäuferin vor dem Hauptbahnhof. Nur die Hofer Penner gehen schlechten Zeiten entgegen. Der warme Wartesaal wird jetzt wieder pünktlich um 22 Uhr 30 geschlossen. Ordnung muß sein im freien Westen.

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