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Kein schlechter Mensch

■ Der gnadenlose Bob Dylan: eine neue LP

Wer Bob Dylan auf seiner diesjährigen Europatournee sah und hörte, der hätte diese Platte gewiß nicht erwartet. Begleitet von der sparsamsten Band seit der Zeit, als er noch allein mit akustischer Gitarre und Mundharmonika Blowin‘ in the Wind ins Mikro hüstelte, war der mittlerweile 48jährige Altvordere des Protestsongs im Frühjahr durch die Lande gezogen. Lediglich umrahmt von Schlagzeug, Baß und dem strähnigen Leadgitarristen Daniel Lanois, der sich flapsig wie eine pazifistische Ausgabe von Billy the Kid auf der Bühne herumlümmelte und dem äußerlich immer mehr an Harpo Marx gemahnenden Meister ungeniert Befehle betreffs seines Gitarrespiels gab, hatte Dylan fast ausschließlich Stücke von 1965 und 1966 in glasharten Rockversionen dargeboten.

Mit praktisch denselben Musikern spielte er nun Oh Mercy ein und schaffte es mal wieder, sämtliche Spekulationen über den Haufen zu werfen. Weit entfernt von der rüden Urwüchsigkeit seiner Live-Konzerte oder der fröhlichen Skurrilität der Stücke mit den Traveling Wilburys wirkt das neue Produkt wie eine schwermütige Reminiszenz an Dylans längst überwunden geglaubte Periode schwülstiger Innigkeit und religiösen Wahns. Fünf Jahre nach dem tiefen Zerwürfnis mit Mark Knopfler seufzt plötzlich gleich zu Beginn von Oh Mercy unvermittelt eine Dire Straits-Gitarre auf, um dem ersten noch recht weltlich anmutenden Stück den Weg zu bereiten: „We're livin'in a political world“.

Nach dieser überwältigenden Erkenntnis werden die Harmonien jedoch immer düsterer und Dylan raunzt, grunzt, jault und jammert, als wolle er allen Schmerz dieser Welt in einer einzigen schwarzen Rille komprimieren. Where Teardrops Fall singt er mit einer Stimme, die fast bricht vor bohrender Sentimentalität. Ring Them Bells scheint die ganze Hoffnungslosigkeit mittelalterlicher Klöster in sich zu bergen, wird aber noch übertroffen vom gänsehaut -trächtigen Man In The Long Black Coat, einem Song wie eine Geschichte von Stephen King.

Die nicht ganz gebannte Christlichkeit tritt ebenfalls wieder zutage, aber Religiosität muß ja in der Kunst nicht unbedingt solch verheerende Folgen haben wie etwa in den Köpfen polnischer Hobbyangler. Ein Maradona bekreuzigt sich ja auch jedesmal, wenn er das Spielfeld betritt, John Coltrane schuf ein Meisterwerk mit dem spirituell-religiösen A Love Supreme und selbst Michelangelos Jüngstes Gericht kann einen gewissen Hauch von Frömmigkeit nicht verhehlen.

Und sogar auf medizinischem Gebiet erntet Mister Dylan Meriten, indem er der Epidemiologie eine neues Forschungsfeld eröffnet - Disease Of Conceit, die Seuche des Eigendünkels.

Die musikalischen Arrangements sind frugal; hier eine kurze Mundharmonikasequenz, dort ein paar Saxophonaphorismen, dazwischen die lakonischen Gitarrenspritzer von Daniel Lanois. Natürlich nicht jene meisterhafte Instrumentierung, mit der die Grateful Dead die letzte Dylan-Produktion verzierten, aber durchaus angemessen und ausreichend.

What Good Am I? fragt sich Bob Dylan besorgt an einer Stelle von Oh Mercy. Er mag beruhigt sein. Solange er solche Platten herausbringt, kann er kein ganz schlechter Mensch sein.

Matti Lieske

Bob Dylan: Oh Mercy, CBS, 465800 1.

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