Mit Blick auf die Schuhspitzen

■ Zur Ausstellung von Claire Bretecher im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover

Linke Spießer“, liest man, breit über die Fassade eines großbürgerlichen Hauses aus der Gründerzeit gesprayt. Hier wird links gedacht und rechts gelebt, soll das wohl heißen. Da sind Zeitgenossen „den langen Marsch durch die Institutionen“ gegangen, um sich im Hier und Heute daunenweich einzurichten. Dabei wird Wasser gepredigt und Whiskey gesoffen.

Solcherart ist auch das Personal der Cartoonfiguren, mit denen die Karikaturistin Claire Bretecher berühmt geworden ist, seitdem ihreFrustrierten (Les frustres) zum ersten Mal in dem linksgerichteten französischen Nachrichtenmagazin 'Le nouvel observateur‘ erschienen sind.

Die Frustrierten, das ist die Generation, die 1968 in Paris für eine bessere Gesellschaft auf die Barrikaden gegangen ist. Inzwischen haben sie Karriere gemacht und die Straße gegen das Sofa eingetauscht. Hier liegen sie, hingefläzt, den Blick auf die Schuhspitzen gerichtet und reden an gegen das schlechte Gewissen, raisonnieren über sich und den Weltzustand und pflegen ihre Wehwehchen, Beziehungskrisen und Neurosen.

Da wird von der klassenlosen Gesellschaft geschwärmt und zugleich mit mörderischem Ehrgeiz an der eigenen Karriere gearbeitet. Man klagt über den Flachsinn von Kinofilmen, die man klammheimlich genießt. Jemand dreht Pornofilme, natürlich nur, um eines Tages den aufklärerischen Agitpropfilm machen zu können. Um ungestört über liberale Kindererziehung zu diskutieren, wird dem Nachwuchs schon eimal krude das Wort verboten. Phallokraten und Feministinnen bevölkern die Szene. Letztere lamentieren über Macho-Männer und sorgen sich zugleich um Cellulitis und nachlassende Attraktivität. Die Grünen kritisieren die Umweltverschmutzung und träumen zugleich vom größeren Auto.

Mit schonungsloser Feder seziert Claire Bretecher unsere Widersprüche, unsere halbwahren und verlogenen Attitüden. Darum wohl hat Roland Barthes sie einmal als „beste Soziologin Frankreichs“ bezeichnet, aber sie ist eher die satirische Chronistin einer linken Szene, die mit den Jahren zur linken Schickeris mutiert ist. Selbst wenn die Bretecher Ärzte karikiert, Illustrationen zu Courteline zeichnet oder in Tourista (noch unveröffentlicht) die Auswüchse moderner Reisewut auf die Schippe nimmt, steht im Zentrum doch immer der Typus des frustrierten, linksintellektuellen Pariser Bourgeois.

Die monomanische Verengung des Themas unterscheidet sie auch von Daumier, mit dem sie in Frankreich gern verglichen wird. Daumier war in der Tat der beste Soziologe Frankreichs im 19.Jahrhundert. Seine satirische Galerie umfaßt die politischen Persönlichkeiten seiner Zeit von Louis Philippe, der „Birne“, bis hin zu Louis Bonaparte. Er zeichnete und ätzte die Lächerlichkeit von Abgeordneten, Ärzten und Anwälten in den Stein. Sein scharfer Spott verschonte weder den Proletarier noch den Bourgeois. Die Legende, der Text unter seinen Bildern, ist meist entbehrlich. Die groteske Darstellung spricht für sich selbst.

Ganz anders bei den Bildfolgen von Claire Bretecher. Die Komik resultiert zwar aus der Differenz zwischen Utopie und Wirklichkeit, Anspruch und Alltag, Sagen und Tun, aber der Witz steckt in der Regel im Wort, nicht im Bild. Ohne Sprechblase macht das Ganze keinen Sinn. Die Komposition bleibt vorwiegend statuarisch, die Personen verändern sich nur minimal in Gestik und Mimik. Inzwischen sind die Frustrierten in die Jahre gekommen. Sie haben Nachwuchs gezeugt. Agrippina heißt das aufmüpfige Kind, Frucht der antiautoritären Erziehung. Politik ist ihr ziemlich schnuppe, sie ist meist gelangweilt und durchschaut ihre Eltern, die sie erfolgreich manipuliert. Die pubertierende Gymnasiastin ist weniger ein Kind von Marx und Coca-Cola als von Heidegger, Tintin und MacDonald. Opportunistisch geht sie durchs Leben; der Walkman federt die Stöße der Außenwelt ab, und der Soziologe Bourdieu schrieb über sie, daß „sie sich existieren lasse wie andere Leute sich gehen lassen“.

Diesem Trumpf heucheln die Eltern vergeblich und komisch hinterher. Sie, die früher Avantgarde waren, sind jetzt hoffnungslos „retro“ und werden von ihrer Tochter belehrt, wann es was zu sagen gilt. Im Dschungel modischer Adjektive, z.B. giga, genial, epatant (etwa: geil, Spitze, super) sind sie hoffnungslos verloren.

Aber Agrippina ist kein Einzelkind. Hinter ihr wartet der kleine Bruder schon auf ein Stichwort. Ein Ende des Frustrierten ist nicht abzusehen.

Michael Stoeber

Die Ausstellung „Claire Bretecher: Frustriert“ dauert bis zum 5.November, täglich außer montags. Das Begleitbuch zur Ausstellung, herausgegeben von Dominique Paillarse, kostet 19,80 DM