Der achte Oktober

Die Gunst der Feierstunde gehört noch einmal den Realisten in der SED  ■ K O M M E N T A R E

Ob die immer hastigere Flucht der DDR-Führung ins Jubiläum nun gelingt, läßt sich natürlich nicht voraussagen. An Panikmache von oben und provozierender Einschüchterung hat es nicht gefehlt. Die Warnung vor China kursierte erneut. Nur eins ist klar: Wenn es zu Auseinandersetzungen auf der Straße kommt, dann geschieht es gegen den erklärten Willen der Opposition. Wer in der DDR eine Reformperspektive, wer den Dissens und Dialog entwickeln will, der überläßt das Jubiläum den Herrschenden und privatisiert. Der 7. Oktober ist kein Datum für die oppositionellen Gruppen, wohl aber könnte es ein Datum für die Wut über den Verlust der letzten freien Grenze, für den Aktionismus aus abgrundtiefer Resignation sein. Neben der Provokation durch ekzessive Einschüchterungen mag das gebündelte Interesse der Weltöffentlichkeit ein mächtiges Motiv sein, etwas zu unternehmen.

Bis zum 7. Oktober hatte die Partei nur eine Politik gegenüber der Krise der DDR anzubieten: die Politik des Rettet-das-Jubiläum. Ab 8. Oktober wird die Krise der Gesellschaft auch zur Krise der Partei werden. Daß in den Parteigliederungen längst schon Reformforderungen und Kritik laut wurden, ist bekannt. Ob die Partei die schleichende Säuberung durch den Austausch der Parteibücher weiter betreiben kann, ist höchst fraglich. Da die inhaltliche Vorbereitung des Parteitages ansteht, sind jetzt auch deswegen die innerparteilichen Kritiker unter Zugzwang. Überhaupt kann die Partei nach dem Jubiläum nicht mehr zur Tagesordnung übergehen. Sie kann die Sicherheitskräfte nicht in Dauermobilisierung halten. Sie ist zu Grundsatzentscheidungen gezwungen. Die Politik der Ventile hat die Akutheit der Krise nur verschoben. Ab jetzt wird entschieden werden müssen, ob die Antwort Repression ist oder Reform. Mit anderen Worten: wirklich kritisch wird es nach dem Jubiläum, vor allem dann, wenn das Jubiläum einigermaßen ungefährdet „über die Bühne“ gebracht wurde.

Selten hat sich ein Regime gegenüber den Chancen derart isoliert. Wie auch immer begründet die Ängste vor der Destabilisierung der DDR gewesen sind. In diesen Tagen der Krise jedenfalls gibt es eine block- und parteienübergreifende Internationale, die die Stabilität der DDR will - aus den verschiedensten Motiven natürlich. Es besteht große Chance der inneren Reform bei außenpolitischer Sicherheit. Die Reformkräfte selbst werden nicht getrieben von der puren Not, wie etwa in Polen. Es müssen keine Ergebnisse präsentiert werden angesichts der Wut der Massen. Schon der Beginn eines Reformprozesses wäre ein Ergebnis, das die Krise in der DDR zunächst einmal entschärfen würde. Die Gunst der Stunde gehört noch einmal den Realisten in der Partei, wenn es sie denn gibt.

Klaus Hartung