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Hausaufgaben

■ Die Selbstentmachtung des Bundestages in Sachen Deutschlandpolitik

Genau in dem Augenblick, in dem Demokratie im anderen deutschen Staat auf die Tagesordnung gesetzt wird, ist eine bemerkenswerte Gegenbewegung in der Bundesrepublik zu vermelden. Auf einen Wink des Bundesaußenministers hin, hat sich das bundesdeutsche Parlament, der Bundestag aus der öffentlichen Diskussion über das Thema der Woche, die Krise in der DDR und die Krise der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten verabschiedet. Dabei hätte es durchaus eine Stunde des Parlaments werden können, wenn am Freitag die Parteien in einen Dialog über die Deutschlandpolitik eingetreten wären. Die Wiedervereinigungsmonologe westdeutscher Politiker in den Medien hätten einer parlamentarischen Kontroverse standhalten müssen, möglicherweise wären sie sogar in sich zusammengefallen.

Statt dessen hat die politische Klasse hierzulande vorgeführt, daß sie von ihren eigenen demokratischen Institutionen in Krisenzeiten, wie dieser, nichts hält. Freiwillig hät sie sich abgemeldet und nicht nur die politische Diskussion den Medien überlassen, sondern damit zugleich der Exekutive die uneingeschränkte Absolution zum Handeln erteilt. Genscher drängt die Fraktionschefs inclusive der Grünen erfolgreich zum Verzicht auf parlamentarischen Diskurs. Die wenigen Instrumente der parlamentarischen Opposition läßt diese sich freiwillig nehmen. Die Politiker aller Parteien müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, damit weder der demokratischen Bewegung in der DDR noch der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik einen Dienst erwiesen zu haben.

Worüber hätte an diesem Freitag gesprochen werden müssen? Zunächst einmal wäre es notwendig gewesen, diejenigen in ihre Schranken zu verweisen, die die Demokratiebewegung in der DDR auf unzulässige Weise mit der Wiedervereinigung koppeln. Berlins Regierungschef Momper hat darauf zurecht hingewiesen. Außerdem: Muß nicht auch einmal geklärt werden, daß beide deutsche Staaten im Augenblick Hauptstörfaktor der Idee des gemeinsamen europäischen Hauses sind. Deutschlandpolitik kann heute nicht mehr erfolgreich mit den rhetorischen Wendungen des kalten Krieges, einer fast schon untergegangenen politischen Konstellation in der Mitte Europas gemacht werden. Überfällig geworden ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel auch eine Diskussion über die Selbstanerkennung der Bundesrepublik. Genschers erfolgreicher Versuch, die Diskussion im Bundestag zu verhindern, ist ihm selbst gar nicht vorzuwerfen. Schließlich ahnt er wohl zu Recht die derzeitige Inkompetenz der Parteien in Sachen Deutschlandpolitik. Bei allem lauten Mediengeschrei nach Reformen in der DDR sollte nicht vergessen werden, daß neben der SED auch die westdeutsche politische Klasse ihre Hausaufgaben in Sachen Neues Denken nicht erledigt hat und damit selbst den Reformprozeß in der DDR behindert.

Max Thomas Mehr

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