: Selbstentmachtung des Parlaments
Karitas Hensel, Mitglied im deutsch-deutschen Ausschuß, zur unterdrückten DDR-Debatte des Bundestags: „Der Bundestag bleibt explizit uninformiert“ ■ I N T E R V I E W
Die Grünen hatten für den gestrigen Freitag eine Bundestagsdiskussion zum Flüchtlingsstrom und zur Situation in der DDR beantragt. Das ist auf Druck der Bundesregierung von allen anderen Parteien abgelehnt worden.
Karitas Hensel: Die Begründung für die Ablehnung lautete, man möchte nicht weiter Öl aufs Feuer gießen. Das Konfliktpotential, das die DDR innerhalb eines sich wandelnden Europas darstellt, will man mit stiller Diplomatie lösen. Nur der Weg der stillen Diplomatie schaffe Vertrauen, erklärte Staatssekretär Priesnick.
taz: Ist das eine Selbstentmachtung des Parlaments in einer dramatischen Situation, die eben nicht der Exekutive überlassen werden kann, sondern eine Stunde des Parlaments sein müßte, gerade wenn wir hier demokratische Verhältnisse für die DDR anmahnen?
Sicher ist das eine Selbstentmachtung. Das Recht des Bundestages ist es, öffentlich die Handlungen der DDR zu bewerten. Wenn es überhaupt einen aktuellen und brisanten Anlaß gäbe, mit dem sich der Bundestag und nicht die Bundesregierung beschäftigen müßte, dann dieser.
Steckt hinter der Ablehnung auch die Sorge der Bundesregierung, gerade die Abgeordneten der Regierungsparteien könnten mit einem Wiedervereinigungsgedröhn die Situation zur 40-Jahr-Feier verschärfen und Öl aufs Feuer gießen?
Man will den Unruheherd DDR nicht noch ausweiten und zum Konfliktfall für Europa machen. Das mit dem Öl aufs Feuer bedeutet, daß man nichts thematisieren möchte, was die DDR zu noch stärkeren Repressionen veranlassen könnte. Die Bundesregierung und die Parteien wollen wohl abwarten, ob und wie Gorbatschow Honnecker zu Reformen drängen wird.
Nun haben auch die Grünen nicht entschieden für die Debatte gekämpft. Fraktionssprecher Lippelt drohte - nachdem Außenminister Genscher ihn bearbeitet hatte - gar mit Rücktritt, falls die Fraktion auf der Debatte besteht.
Bei den Grünen ist es immer eine politische Gratwanderung, wenn es um Menschenrechte geht und die Frage, wie weit muß man den stillen diplomatischen Weg gehen und anerkennen, weil er mehr an Ergebnissen bringt. Aber gegenwärtig geht das nicht mehr auf diesem Weg: der Bundestag ist weder informiert, was die Bundesregierung mit der DDR-Führung verhandelt, noch welche Abmachungen getroffen werden. Der Bundestag bleibt explizit uninformiert. Die Fraktion der Grünen hat entschieden eine Debatte gefordert, aber die parlamentarische Geschäftsführung hat sich dann von den anderen Parteien überzeugen lassen und hat nicht gekämpft. Dabei ist diese Debatte wichtiger als je.
Interview: Gerd Nowakowski Siehe Kommentar Seite 8
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