: Gorbatschow: „Hier kann uns nichts mehr erstaunen“
■ Jubelfeier zum 40. Jahrestag der DDR mit Honecker und dem Kreml-Chef im Palast der Republik / Gorbatschow warnt vor Panikreaktionen / Die SED sei fähig, vom Leben zu lernen / Honecker: Kein Ärger in Dresden
Berlin (taz/dpa/ap) - Die Geschichte der DDR ist in den letzten Jahrzehnten so erfolgreich gewesen, daß sie keiner Reformen bedarf. Diese Auffassung vertrat zumindest gestern auf der Festveranstaltung im Palast der Republik der DDR -Staats- und Parteichef Erich Honecker. Er bekräftigte, daß mehr als jene kleinen Veränderungen, die die SED schon seit Jahrzehnten praktiziert, überflüssig sind. Auf die aktuellen Probleme der DDR - Ausreisewelle und wachsender Protest ging er nur mit scharfen Angriffen gegen die BRD ein. Eine „zügellose Verleumdungskampagne“, die „international koordiniert“ sei, solle die Menschen „verwirren“. Das sicherlich auch bei SED-Genossen vorhandene Bedürfnis nach Orientierung in dieser schwierigen Zeit suchte er mit Slogans wie „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“, die zu heftigem Applaus Anlaß boten, zu befriedigen.
Als einziger Gastredner sprach der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow. In seiner mit Spannung erwarteten Ansprache argumentierte er so, wie es eigentlich zu erwarten war: er versicherte der DDR die uneingeschränkte Solidarität der großen Sowjetunion und verteidigte sie gegen Angriffe aus dem Westen. Immerhin erwähnte er, was bei seinem Vorredner unerwähnt geblieben war, die „Entwicklungsprobleme“ der DDR. Seine Feststellung, „daß die Fragen, die die DDR betreffen, nicht in Moskau, sondern in Berlin beantwortet werden“, bewegte die Versammlung so sehr, daß sie an dieser Stelle zum ersten Mal applaudierte. Auf schweigende Aufmerksamkeit war dagegen sein zuvor entwickelte These gestoßen: In den Entwicklungsproblemen der DDR käme sowohl ein inneres Bedürfnis der Gesellschaft wie auch der Umstand zum Ausdruck, daß sich kein Land der „Modernisierung“ entziehen kann, die gegenwärtig die sozialistischen Länder durchmachten. Er versäumte allerdings nicht darauf hinzuweisen, daß die SED die Fähigkeit besitze, auf diese Herausforderungen zu antworten.
Bei einem Journalistengespräch nach seiner Ankunft hatte der Kreml-Chef versucht, dem Eindruck einer krisenhaften Entwicklung in der DDR entgegenzusteuern. Er halte die Situation für nicht gefährlich. In Anbetracht der Situation in der Sowjetunion, „kann uns hier nichts mehr in Erstaunen versetzen“, sagte er. Die Sowjetunion habe gelernt, wie eine Sache voranzubringen und zu verteidigen sei. „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“. Wer die Impulse, die von der Gesellschaft ausgingen, aufgreife und seine Politik gestalte, „der dürfte keine Angst vor Schwierigkeiten haben“.
Gorbatschow äußerte sich im Anschluß an eine Kranzniederlegung vor dem Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus. Angesprochen auf die Frage, ob die Politik seiner Perestroika auch in der DDR angewandt werden solle, meinte er lapidar: daß wichtigste sei, was die Bürger der DDR davon hielten. Wenn die Sowjetunion bei ihrer Umgestaltung nicht von eigenen Problemen und dem eigenen Volk ausgehen würde, dann könnte aus der Umgestaltung nichts werden. Die UdSSR kenne ihre deutschen Freunde gut, achte ihre Fähigkeit zu überdenken, vom Leben zu lernen und entsprechende Korrekturen einzuführen, „wenn das notwendig ist“. Er habe vollstes Vertrauen zu ihnen.
Gorbatschow war gestern mittag bei seiner Ankunft in Berlin -Schönefeld von DDR-Staats- und Parteichef Honecker mit dem obligatorischen Bruderkuß begrüßt worden. Obwohl Honecker sichtlich gute Laune demonstrierte, blieb die Situation in Ost-Berlin gespannt. Weiträumig war die Innenstadt durch Sicherheitskräfte abgeschottet. Zu den offiziellen Terminen, besonders bei öffentlichen Auftritten des hohen Gastes aus Moskau, sollten weder Mißfallenskundgebung gegenüber der DDR noch überschwengliche „Gorbi, Gorbi„-Rufe die Feierlichkeiten überschatten. Die DDR-Medien hatten Ort und Zeit, an denen Gorbatschow mit der „Normal-Bevölkerung“ in Kontakt kommen könnte, erst gar nicht veröffentlicht.
Als die tonnenschwere, schwarze SIL-Limousine Gorbatschows vor Fortsetzung auf Seite 2
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dem Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus in Ost-Berlin vorrollte, der KPdSU-Chef mit seiner Gattin Raissa ausstieg und zur Kranzniederlegung schritt, mischten sich unter die Begeisterungsrufe auch Pfiffe. Beim anschließenden „Bad in der Menge“, von dem die DDR -Offiziellen wohl gehofft hatten, es finde nicht ausgerechnet am vielbesuchten Alexanderplatz statt, gab es allerdings auch kritische Stimmen junger DDR-Bürger. Ein Mann rief: „Gorbi, hilf uns“, worauf Gorbatschow riet: „Leute, macht keine Panik. Wir kämpfen weiter.“ Vereinzelt war auch das trotzige „Wir bleiben hier“
und „Mach weiter so, Gorbi“ zu hören. Bei der Begrüßung Gorbatschows auf dem Flughafen hatte Honecker auch auf Fragen westlicher Journalisten zu Ausreisern und der Lage in Dresden und Leipzig Stellung genommen. In Dresden, so Honecker, sei „alles normal, alle gehen ihrer Arbeit nach“. Tatsächlich soll es am Dresdner Hauptbahnhof am Donnerstag abend erneut zu Demonstrationen und Zwischenfällen gekommen sein, die aber nicht das Ausmaß des Vorabends erreicht hätten. Nach den Demonstrationen und handgreiflichen Auseinandersetzungen von Dienstag und Mittwoch, bei denen auch Polizisten zum Teil schwer verletzt wurden, wird eine größere Anzahl festgenommener Personen demnächst wegen „krimineller Handlungen“ vor Gericht ge
stellt.
Außer Polizisen sollen am Mittwoch auch eine große Zahl von protestierenden Menschen zum Teil sehr schwer verletzt worden sein. Die Meldung eines Westberliner Privatfunks, daß ein junger Mann ums Leben gekommen sei, wurde von der DDR -Nachrichtenagentur 'adn‘ allerdings als „frei erfunden“ zurückgewiesen. Wie aus Dresden bekannt wurde, sollen die Sicherheitskräfte von dem gewaltsamen Vorgehen eines Teils der Demonstranten völlig überrascht gewesen sein. Bürger der Stadt berichteten, Steinewerfer hätten sich hinter Kinder und Frauen verschanzt. Mehrere Polizeifahrzeuge wurden demoliert. Auch betriebliche Kampfgruppen und Armeeeinheiten sollen im Einsatz gewesen sein. Mehrere Personen ha
ben sich am Mittwoch auf Bahnschienen gelegt, um auf Züge in Richtung Bayern aufzuspringen. Auseinandersetzungen soll es auch in Magdeburg gegeben haben. Am Donnsterstag abend wurde ein Schweigemarsch von über 500 Menschen durch Sicherheitskräfte aufgelöst. Die Vopos hätten Schlagstöcke gebraucht, hieß es.
Während an der Bahnstrecke gen Westen alles dafür getan wurde, daß niemand herauskam, kam in Berlin-West niemand mehr in die DDR hinein. Sämtliche sieben innerstädtischen Übergänge waren gestern endgültig dicht. DDR-Polizisten begründeten dies damit, daß derzeit keine Touristenvisa ausgestellt würden. Jetzt seien nur Verwandtenbesuche mit einem gültigen Visum möglich.
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