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„Das Herz schlägt deutsch“

■ 150 hilfswillige Bremer Ein- trafen in St. Jacobi auf drei hilfsbedürftige Aussiedler

„Diese Liebe ist ja erdrückend.“ Pastor Fritz Weißflog, Gemeindepfarrer der Neustädter St.-Jacobi-Gemeinde, ist nach eineinhalb Stunden selbst ganz hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und plötzlicher Angst vor der eigenen Courage. Propevoll ist der große Gemeindesaal. Zu Butterkuchen und heißem Kaffee gibt es Nächstenliebe in dicken Portionen und erst einmal einen kräftigen Dämpfer. Bis aus Ganderkese und Schwanewede sind Deutsche (West) gekommen, um Deutschen (Ost) zu helfen. Aber irgendwie fehlt der Veranstaltung die rechte Balance. Ganze drei von über 200 AussiedlerInnen haben den Weg vom nahegelegenen Übergangslager am Niedersachsendamm ins Gemeindehaus zum Begegnungstreffen gefunden.

Plötzlich wissen die Versammelten gar nicht, wohin mit der ganzen Hilfsbereitschaft. Die seit Tagen gestaute, weil objektlose Ergriffenheit (West) findet auch in der Jacobi -Gemeinde überraschend kein Gegenüber (Ost), hängt irgendwie als hochtourig leerlaufende Geschäftigkeit im Raum. Alles fragt durcheinander, jeder will etwas anderes wissen, ob Kleidung oder Möbel nötiger sind, ob ehrenamtliche Helfer gebraucht werden, wer eine „Patenfamilie“ aus der DDR vermitteln kann, ob AussiedlerInnen einen Berichtigungsschein für Sozialwohungen erhalten usw.

Vorne versucht Pastor Weißflog, im hilfsbereiten Durcheinander die Übersicht zu behalten, regt eine Namensliste mit den Hilfswilligen an und die Ernennung ehrenamtlicher Koordinatoren, die Kontakte zwischen Ein- und Aussiedlern vermitteln. Vor allem warnt der Pastor vor einem Strohfeuer der Nächstenliebe. Weißflog drängt auf Langfristigkeit, die nur aus dem Herzen und nicht aus Portemonnaie und Dachboden kommen kann. Der Pastor hat gelesen, was er nicht meint: Da hat ein Bremer per An

zeige eine DDR-Familie gesucht, um für sie einmal ein nettes Wochenende zu arrangieren. „Solche Eintagsaktionen brauchen unsere neuen Mitbürger am allerwenigsten, was sie brauchen, ist ein Gefühl von Nähe und Menschlichkeit.“ - „Wir brauchen Waschmaschinen,“ berlinert es (Ost) von hinten.

Der Pastor nennt derweil ein anderes Beispiel für Christlichkeit, die er meint, und bittet um Hilfsbereitschaft signalisierende Handzeichen: „Wer erklärt sich bereit, einer DDR-Familie intensiv bei der Suche nach einer neuen Wohnung zu helfen?“ Gegenfrage aus dem Publikum: „Wer zahlt eigentlich die Mieten?“ Diesmal geht nur noch ein trachtenjackenbeärmelter Prominentenarm hoch. Er gehört Frau Motschmann, Pastorengattin.

Eine Frau bittet derweil, nicht nur an die ehemaligen DDR -Bürger, sondern auch mal an Aussiedler aus Polen und der Sowjetunion zu denken: „Wir müssen eine Zweiklassengesellschaft unter den Aussiedlern vermeiden!“ Irgendwie geht ihr Appell unter. Pastor Weißflog unternimmt einen zweiten, fast inständigen Anlauf. Ob sich nicht jemand zumindest dann um deutschstämmige Polen kümmern will, wenn es „zahlenmäßig nicht auskommt mit unseren Brüdern und Schwestern aus der DDR“. Wieder keine Resonanz. Nach der Veranstaltung wird der Pastor finden, daß „unser Herz doch sehr deutsch schlägt“.

Nach eineinhalb Stunden rennt alles halbzufrieden auseinander. Direkten Kontakt zu einer DDR-Familie habe sie sich von der Einladung versprochen, sagt eine ältere Dame beim Rausgehen und will sich jetzt selbst kümmern.

„Eine Waschmaschine oder ein Fahrrad“ hat sich ein Ehepaar erhofft, das vor drei Wochen aus Ostberlin nach Bremen gekommen ist. „Ist mal wieder nur geredet worden und nichts bei rausge

kommen.“ Wo sie einmal dabei sind, lassen sie auch richtig Dampf ab, schimpfen auf die Heimleitung im Übergangslager, die angeblich die Spenden im Kasernenkeller hortet, während sie immer noch keine Kaffeemaschine haben, auf die neuen Mitbürger, die Stereoanlagen spenden („Was sollen wir mit 'ner Anlage, solange wir nicht mal 'ne Waschmaschine haben“), und - vor allem - auf „die Polen“, mit denen sie den Trakt im Wohnheim teilen. „Die haben sogar schon Gardinen vor den Fenstern.“ Am schwarzen Brett im Wohnheim haben sie einen Zettel entdeckt und seither einen finsteren Verdacht. Auf dem Zettel steht: „Paketservice nach Polen“.

K.S.

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