: Abbado statt Karajan
■ Die Philharmoniker haben einen neuen Chefdidaktiker
Weißer Rauch gestern Abend über der Philharmonie: nicht Maazel, Muti oder Mehta, nicht Ozawa, Previn oder Chailly, nicht Levine oder Leinsdorf, nicht Barenboim, nicht Haitink, nicht Kleiber, nicht ganz alt und auch nicht ganz jung, nicht Favorit und nicht Außenseiter - neuer Chefdirigent und Künstlerischer Leiter der Philharmoniker wird Claudio Abbado, auserwählt von den 120 Orchestermitgliedern als Nachfolger von Herbert von Karajan. Sechs Stunden hatte die an einem geheimen Ort abgehaltene „erste volldemokratische Wahl“ in der 107jährigen Geschichte des Orchesters gestern gedauert - aber jetzt sind offenbar alle zufrieden. Abbado hat die Wahl angenommen, die Verhandlungen über seinen Vertrag (der diesmal nicht auf Lebenszeit abgeschlossen werden soll) können beginnen, und den ungeliebten Intendanten Hans Georg Schäfer wird man, wie dieser am Wochenende mitteilen ließ, auch schon zum Monatsende los.
Nach dem großdeutschen monomanischen greisen größten Dirigenten aller Zeiten jetzt also ein aufrechter Sechsundfuffziger aus Mailand. Der derzeitige Musikdirektor der Wiener Staatsoper, Generalmusikdirektor der Bundeshauptstadt Wien und erster Gastdirigent des Chicago -Symphonieorchesters liebt nicht nur die Musik, auch die der Moderne, sondern auch das Volk, das sie hören soll. So spielte er - vor zehn Jahren, als das noch modern war - in Italien mit Unterstützung der PCI immer wieder vor der revolutionären Arbeitermasse und in Berlin wurde er einem breiteren Publikum dadurch bekannt, daß er einem solchen im letzten Jahr Gustav Mahlers Dritte Symphonie in der Waldbühne zu Gehör brachte. Massen versammelten sich damals nicht nur hinter, sondern auch vor dem Dirigenten. Zwecks allgemeinem Völkerlegato enthusiasmierte und dirigierte Übervater Abbado seine von ihm gegründeten Nachwuchsorchester: das European Community Youth Orchestra (mit Jugendlichen aus EG-Ländern) und das Gustav-Mahler -Jugendorchester (für Nicht-EG-Mitglieder). Wer aus diesen Orchestern aus Altersgründen ausscheiden muß, muß sich dann noch lange nicht von Abbado trennen, denn dieser dirigiert schließlich auch das in Berlin ansässige Chamber Orchestra of Europe, das aus ehemaligen Mitglieder des EG -Jugendorchesters gebildet wird. Was die von den Philharmonikern so lange vermißte „Orchestererziehung“ betrifft, so ist Abbado hier sicher genau der Richtige.
grr
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