: „Das Volk sind wir - und wir sind Millionen“
■ Mehr als 6.000 DemonstrantInnen auf den Straßen rund um den Alexanderplatz / „Pressefreiheit, Meinungsfreiheit“ und „Keine Gewalt“ rufen die zumeist jungen DemonstrantInnen, aber Polizei und Stasi schlagen zu / Viele Verhaftete und Verletzte in den Seitenstraßen
Bis zum späten Nachmittag ist auf dem Alex alles ruhig. Die Musikgruppen spielen vor mäßig besetzten Reihen, es nieselt, fröhlich sind nur die Kinder auf der Spiel- und Bastlerstraße. Die längsten Schlangen stehen vor einem Obststand, dort gibt es Jubiläumsweintrauben aus dem Kaukasus, 4.50 das Kilo. Kurz vor 17 Uhr Unruhe vor der Weltuhr am S-Bahnhof Alexanderstraße. Ungefähr 50 Jugendliche recken die Finger mit V-Zeichen empor, skandieren „Wir bleiben hier“ und stimmen die „Internationale“ an. Die Filmkameras der Reporter surren, mehrere Stasibüttel können es nicht verhindern. Am Rande der schnell wachsenden Menschenmenge immer wieder heftige Diskussionen. Im grellen Kameraflutlicht eine weinende Frau, Angst hat sie um ihre Kinder, sie hat schon zwei Eintragungen in ihrer Kaderakte. „Wieviel hat der Rias dir für diese Hetze bezahlt“, erregt sich eine Zuhörerin, „statt zu quatschen“ solle sie sich lieber in die Listen des „Neuen Forums“ eintragen, „oder bist du etwa zur Stimmungsmache vom Stasi eingeladen?“ Vielleicht, denn direkt neben ihr greifen sich Stasi-Leute einen schweigenden Jugendlichen aus der Menge und schleifen ihn an den Haaren Richtung S-Bahn. Die uniformierte Polizei, in diskreter Präsenz am Rande vorhanden, greift nicht ein. Von der weiteren Entwicklung wird sie offensichtlich überrascht. Um 17 Uhr 20 setzt sich plötzlich die Menschenmenge in Richtung „Palast der Republik“ in Bewegung. Innerhalb von Minuten wächst die Menge zu einem Demonstrationszug zusammen. Es gibt keine Anführer, es gibt keine Plakate, es gibt keine verabredeten Parolen, es gibt nur ein Ziel: den Glaspalast der Regierenden. 2.000 bis 3.000 Menschen stehen dort gegen 17 Uhr 30, sie verteilen sich über die große Rasenfläche, kaum behindert von der überforderten Polizei. Formierte Stasi -Leute sind nicht zu sehen. „Gorbi, wir kommen, Gorbi hilf uns“, rufen die Demonstranten gegen die erleuchteten Fenster, aber Gorbi ist nicht zu sehen. Erst jetzt ziehen blau und grün uniformierte Polizeitruppen auf, auf der Karl -Liebknecht-Straße schützen sie abfahrende Staatskarossen und nebenbei ganz sicher die Buffettafeln im „Palast“. Einzelne Demonstranten werfen Ostgeld auf die Straße, andere verkleben sich ihre Münder mit Pflastern. Die Mehrheit bleibt laut, „das Volk sind wir, und wir sind Millionen!“, rufen sie. Die Menge ist inzwischen auf ungefähr 6.000 Menschen angewachsen, immer wieder hört man „Neues Forum, Neues Forum“. Reporter aller europäischen Fernsehanstalten wieseln umher, werden umlagert, „schreiben sie, wir wollen hier nicht weg, wir wollen Reformen und keinen Stasinismus“. Gegen 18 Uhr wird die Lage übersichtlicher, die Menschenmasse formiert sich zu einem „geordneten“ Demonstrationszug und wandert, von Polizei unbegleitet, zügig die Rosa-Luxemburg-Allee Richtung Prenzlauer Berg. Eine Demonstrationsführung gibt es nicht, die an der Spitze des Zuges rückwärts laufenden Bildreporter wirken wie die „Rattenfänger“ vom Alex. Ecke Prenzlauer Allee/Mollstraße teilt sich die Menge, unter den Demonstranten herrscht Verwirrung. Einzelne Gruppen versuchen die Menge Richtung Gethsemanekirche zu bugsieren, andere Gruppen auch, aber mit einem Umweg am 'adn'-Gebäude vorbei. Dieses klappt, große Gruppen rufen immer wieder „Pressefreiheit, Meinungsfreiheit“. Das scheint einen empfindlichen Nerv zu treffen, erst jetzt rollen die ersten vollbesetzten Mannschaftswagen der Polizei auf. Auf der Mollstraße formieren sie sich zu Dreierreihen und treiben die Demonstranten auf die Kreuzung Hans-Beimler-/Greifswalder Straße. Dicht neben einem Parkplatz werden mehrere Jugendliche von Polizisten abgedrängt und von Stasi-Leuten in bereit stehende Autos geschleppt. Zwei Demonstranten bekommen Gummiknüppel auf die Nase, blutend befreien sie sich aus den Polizeigriffen und laufen wieder in die Menge. „Keine Gewalt“, wird immer wieder gerufen, und von seiten der Demonstranten gibt es auch keine Gewalt. Es ist eine friedliche Rebellion und die erste größere Demonstration in Ost-Berlin seit 1953. Beängstigend sind nicht die zahlreichen Polizistenketten, die langsam von allen Seiten gegen den Demonstrationszug vorrücken, sondern beängstigend ist die Stille, die auf der Straßenkreuzung herrscht und noch beängstigender sind die sich aus den Demonstrantengruppen herauslösenden Stasi-Formationen, die lautlos und untergehakt gegen die friedlichen Demonstranten vorrücken und Menschenkeile in sie hineintreiben. Der lächelnde Nachbar könnte ein Stasi-Agent sein, Unruhe und Angst breitet sich aus. Das Kalkül der Herrschenden geht fast auf, Polizei und Stasi-Menschenketten, dirigiert von Einsatzleitern mit Walkie-talkies treibt die Demonstration in vier Gruppen auseinander. Einer größeren Gruppe von ungefähr 1.500 Demonstranten gelingt es, in die Greifswalder Straße Richtung Gethsemanekirche zu kommen. Ihr Weg wird immer wieder aufgehalten von Ordnungskräften und FDJ -Jugendgruppen. Auch hier wieder Gerangel und vereinzelte Festnahmen. Gegen 21 Uhr wird die Dimitroff-Straße/Ecke Schönhausener Allee zeitweilig völlig gesperrt. Stasi-Leute blockieren die U- und S-Bahnein- und -ausgänge. Durchgelassen werden zeitweilig nur noch Krankenwagen. Eine kleine Gruppe von Jugendlichen versucht, in der Nähe der S -Bahnstation Dimitroff-Straße einen FDJ-Kordon zu durchbrechen, vergebens. Breitschultrige Stasi-Leute stürzen sich auf sie, zwei werden im Polizeigriff untergehakt abgeführt, einer zusammengeschlagen. Erst gegen 22 Uhr wird die S-Bahn wieder freigegeben. In den abgesperrten Straßen um die Gethsemanekirche soll es zu größeren Knüppelaktionen gekommen sein.
Horst Förster
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