: Aufruf an alle Mitglieder der SED
Erklärung des Neuen Forums zum 40. Jahrestag der DDR ■ D O K U M E N T A T I O N E N
Die Wirksamkeit des Neuen Forums ist für unsere Gesellschaft ebenso neu wie lebenswichtig. Zehntausend Unterschriften aus allen Bevölkerungsschichten beweisen schon jetzt, daß Gemeinschaftshandeln und Verantwortungsgefühl in der Stagnation unseres gesellschaftlichen Lebens nicht untergegangen sind. Nicht nur die Krisenzustände unserer Gesellschaft sind unerträglich, es ist auch unvertretbar geworden, die öffentliche Diskussion der gesellschaftlichen Bedingungen unseres Lebens zu verweigern. Die zehntausend Unterschriften sind weit davon entfernt, eine staatsfeindliche Handlung zu sein - sie sind ein Akt staatsbürgerlicher Verantwortung.
Wir protestieren gegen die Versuche der Regierung, uns als Sozialismusfeinde darzustellen. Das Neue Forum ist eine Stätte für neues Denken. Das ist in der DDR ebensowenig sozialismusfeindlich wie in der Sowjetunion. Das Neue Forum mag eines Tages entbehrlich sein - jetzt ist es unentbehrlich. Allen Versuchen, dem gesellschaftlichen Dialog durch Kriminalisierung, durch Ausgrenzung und Einschüchterung auszuweichen, wollen wir unsere demokratische Aktion entgegenstellen. Der Sozialismus, den die Regierung so scheinheilig gefährdet sieht, kann durch eine Basisbewegung nicht bedroht sein. Bürgerinitiativen bedrohen nicht, sondern entfalten gesellschaftliches Leben.
Eher schon gefährdet die Untätigkeit der SED den Sozialismus auf deutschem Boden. Wir wenden uns ausdrücklich an die zwei Millionen Mitglieder der SED: Ihr bildet die größte und wichtigste politische Körperschaft in unserem Land. Zu Euch gehört ein enormes Potential von Fachwissen und Leitungserfahrung, das für die Erneuerung unserer Gesellschaft dringend gebraucht wird. Ihr beansprucht die führende Rolle - übt sie aus! Führt die Diskussion in Euren Reihen, führt die Gesamtpartei auf einen konstruktiven Kurs! In den letzten Wochen hat es viele Resolutionen von Grundorganisationen an das ZK gegeben. Kennen wenigstens die Mitglieder des Zentralkomitees ihre Zahl und ihren Inhalt? Werden sie beraten? Werden sie umgesetzt? Wenn in einer sozialistischen Gesellschaft selbst der Führungspartei mit zwei Millionen Menschen die innere Diskussion und Zusammenarbeit verweigert wird, dann muß es allerdings zu qualvollen und unerträglichen Spannungen kommen. Die Diskussion, die die SED selbst führen muß, ist ein wichtiger Teil der gesamtgesellschaftlichen Diskussion, die unser Land braucht.
Wir rufen alle Bürger der DDR zu aktivem und verantwortlichem Verhalten auf. Gerade die tief in alle gesellschaftliche Gliederungen eingedrungene Resignation und die mißtrauische Ratlosigkeit der politischen Führung erfordern in den nächsten Monaten die Wiederbelebung der demokratischen Aktivität aller Bürger in allen vorhandenen Strukturen.
Berlin, den 6.10.1989
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