Das Ende einer kommunistischen Massenpartei

Am Samstag nachmittag wurde die regierende USAP in eine sozialistische Partei umgewandelt: Der Machtkampf wurde durch einen klaren Sieg der Reformer entschieden / „Die Partei ist jetzt eine Partei wie jede andere“ / Nachhutgefechte der Orthodoxen  ■  Aus Budapest Erich Rathfelder

Am Samstag abend kurz nach acht Uhr war die Entscheidung gefallen: Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei, die Partei der ungarischen Kommunisten, hörte auf zu existieren. Nur 159 der 1.254 anwesenden Delegierten wehrten sich noch und stimmten gegen die Umbenennung der Partei. Doch die Mehrheit der Delegierten kannte kein Zögern mehr, das Ende des Kommunismus in Ungarn einzuläuten. Ihre neue Partei heißt Ungarische Sozialistische Partei (USP).

In Zukunft wollen sie sozialistisch oder sozialdemokratisch, auf jeden Fall wie im Westen sein. Demokratisch, um die Macht im Staate konkurrierend, wollen sie Schluß machen mit allen Relikten der Vergangenheit. Der demokratische Zentralismus ist abgeschafft, die Diktatur des Proletariats ist nur noch eine düstere Chimäre aus vergangener Zeit. Die Arbeitermilizen, die Kampftruppen der Partei, werden bald aufgelöst, die Betriebsorganisationen der bisherigen Partei haben in der neuen USP nichts mehr zu suchen.

Schon das Drumherum des Kongresses ist bezeichnend: Die früher üblichen Parolen, Spruchbänder und Fahnen in den Budapester Straßen fehlen. „Demokratie, Rechtsstaat, Sozialismus“ heißen die bescheidenen Parolen, die allein im Saale zu sehen sind. Und die Medien halten sich in der Berichterstattung zurück. Wurde noch die Eröffnung direkt im Fernsehen übertragen, werden jetzt nur noch Zusammenfassungen gezeigt. „Die Partei ist eine Partei wie jede andere, das wäre ja schon Hilfe für den Wahlkampf, wenn wir alles übertrügen“, sagt ein ungarischer Fernsehreporter selbstbewußt. Die ungarischen Kommunisten - pardon: Sozialisten - sind auf ihre wirkliche Größe in der Gesellschaft zurückgestutzt. Eine runde Sache also - ein Durchmarsch der Reformer um Imre Pozsgay, der nur im Abschied von den Relikten der Vergangenheit eine Chance für die ungarische Linke sieht, vom Volke bei den Wahlen nicht ganz im Stich gelassen zu werden.

War es noch am Freitag völlig offen, wie sich der Parteitag entwickelte, zeigten die Eintragungen der Delegierten in die sechs „Plattformen“ schon bald ihre Präferenzen an. Als der Verhandlungsleiter für die Reformplattform 479 Unterschriften zählte, die Gruppe des ehemaligen Parteiideologen Janosz Berecz jedoch nur aus 26 Delegierten bestand, war allen klar, in welche Richtung der Zug abfahren würde. Sogar die „volksdemokratische Plattform“ der „auch neuen Linken“, die den Stalinismus und Bolschewismus kritisieren, jedoch nicht alle marxistischen Positionen aufgegeben haben und gleichwohl die Reformer unterstützen, hatten mit 105 Unterschriften wesentlich mehr Delegierte hinter sich. Eine vernichtende Niederlage für die Zentristen um Berecz und Parteichef Grosz zeichnete sich also da schon ab. Die stalinistischen Ultras, und das war eine weitere Überraschung, waren völlig untergetaucht.

Kein Wunder also, daß Pozsgay, als er am Nachmittag vor die Presse trat, die Erleichterung anzumerken war. Der Coup war gelungen. Die Reformer sind es, die im weißen Haus an der Duna, dem ehemaligen ZK-Gebäude, bleiben können.

Vielleicht kann dieser Tag über die alte Frage Auskunft geben, ob es die „Männer“ sind - Frauen spielen in der ungarischen politischen Landschaft immer noch eine nur untergeordnete Rolle -, die Geschichte machen, oder ob die langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen in solchen Ereignissen kulminieren. Pozsgay, der mit seinem taktischen und strategischen Geschick verriet, daß ein Reformer auch Machtpolitiker sein muß, zeigt sich immer mehr als ungarischer Gorbatschow. Seine vor drei Wochen ausgesprochene Drohung, die Partei notfalls zu verlassen, wenn sie sich nicht grundsätzlich verändere, verfehlte ihre Wirkung bei den Delegierten nicht. Indem er die Auseinandersetzung so zuspitzte, zwang er die Partei schon im Vorfeld des Kongresses zur inhaltlichen Diskussion und legte damit die schon lange wirkende gesellschaftliche Diskussion frei: Auch die ungarischen Kommunisten haben keine Alternative zur Demokratie im Staate und außenpolitischen Neubestimmung mehr. Ungarn ist nun endgültig auf dem Weg zur Demokratie.

Die Winkelzüge der Apparatschiks dagegen fielen kläglich aus. Grosz, der ja noch mit Pozsgay den alten Parteichef Kadar im Mai 1988 gestürzt hatte, ist am Samstag zu einer Randerscheinung herabgesunken und setzte sich vom Präsidiumstisch in die letzte Reihe der Delegierten. Und Janosz Berecz, der sich zwar den Eintritt in die neue Partei noch offen hielt, war die Erschütterung deutlich ins Gesicht geschrieben. Mit seinen peinlichen Auftritten vor den Delegierten, als er noch einige kleine Korrekturen an der ersten Passage des vorläufigen Parteistatuts anbringen wollte, unterstrich er nur noch seine Außenseiterposition.

Doch mit der folgenden Debatte konnten die Spitzenleute der Reformer - Pozsgay, mit ihm Außenminister Horn und Ministerpräsident Nemeth - nicht zufrieden sein. Denn gerade der bisherige Präsident der Partei, Rezsö Nyers, versuchte in seiner Rede am Nachmittag noch einmal die Fronten zu verwischen. Er, der rechtzeitig seine sozialdemokratische Vergangenheit wiederentdeckt hat und mit seiner Stellungnahme für die Änderung des Parteinamens auch viele alte Genossen überzeugte, versuchte noch einmal zu versöhnen, was eigentlich nicht mehr zu versöhnen ist. Indem Nyers die alten Genossen nicht ganz fallen ließ, stellte er das Konzept einer sozialistischen Reformpartei wieder in Frage. So kamen die Zentristen letztlich noch einmal davon.

Immer noch bleibt unklar, was mit dem Parteivermögen zu geschehen hat. Denn die USP ist zur Rechtsnachfolgerin der USAP geworden, und damit Besitzerin von Häusern, Schulungsheimen, Liegenschaften im Wert von mehreren hundert Millionen Mark - aber auch gezwungen, die Funktionäre auf den Posten dieses Apparats weiter mitzuschleppen. Poszgay und die Seinen werden am dritten Tag des Kongresses in dieser Frage reinen Tisch machen müssen, wenn sie ihr politisches Projekt nicht doch noch gefährden wollen. Auch die Frage, wer von den alten 720.000 Mitgliedern in die neue Partei eintreten darf, ist noch ungeklärt. Denn mit einer alten Partei im neuen Kleide ist ihnen nicht gedient. Immerhin erschien die Parteizeitung 'Nepszabadsag‘ zum ersten Mal ohne das Zitat aus dem kommunistischen Manifest: „Proletarier aller Länder vereinigt euch“.