piwik no script img

Jubelfeier im "volkspolizeilichen Handlungsraum"

■ Tausende demonstrierten in Ost-Berlin bis in die späte Nacht

Sechs- oder siebentausend Menschen müssen es gewesen sein, die am Samstag abend in Ost-Berlin den Mut zum demonstrativen Kontrapunkt fanden. Die Regie einer Führung, die den von langer Hand inszenierten Geburtstag in den letzten Tagen am liebsten abgesagt hätte, konnte nicht aufgehen. Zuviel an Unmut und neuer Aufbruchstimmung hat sich vor allem bei den jungen Leuten angestaut, die in ausgelassener Stimmung, spontan und unkoordiniert vom Alexanderplatz aus durch die Innenstadt ziehen. Ihre roten Fahnen dazu haben sie dem offiziellen Festtagsschmuck entliehen. Das Aufgebot der überrumpelten Sicherheitskräfte reicht gerade dazu, die Autos umzuleiten und so den Demonstranten - unter den staunenden Blicken der internationalen Presse - das Stadtzentrum zu überlassen. Nur Unter den Linden, wo's gen Westen zum Brandenburger Tor zu geht, hatten die Planer Vorsorge getroffen. Schon am Nachmittag flaniert auf der Prachtstraße praktisch nur noch die Staatssicherheit, die reisebusweise herangekarrt worden war. Doch die Demonstranten, die „Neues Forum!“ skandieren oder mit der Parole „Auf die Straße!“ halb erstaunt über sich selbst ihre Aktion bekräftigen, wollen nicht in den Westen; wollen auch nicht am Brandenburger Tor, dem Symbol der Teilung, ihren Systemdissens in Richtung Westen demonstrieren. Sie proben den Aufbruch im eigenen Land, suchen die demonstrative Öffentlichkeit für eine Reformperspektive, die sich immer wieder auf die Parole „Neues Forum“ zusammenzieht. We shall overcome singen sie und - halb ironisch - die Internationale. Auch die revolutionäre Arbeiterhymne erklingt an diesem Abend, um die bürgerlichen Freiheiten einzufordern: „Pressefreiheit“ heißt die Forderung vor dem Haus der staatlichen Nachrichtenagentur 'adn‘, „Volkssouveränität“ ruft man am Palast-Hotel, wo sich zu dieser Stunde die Symbolfigur des Reformsozialismus auf die Abreise vorbereitet.

Diplomatische Zurückhaltung

Und natürlich „Gorbi, Gorbi„-Rufe auch an diesen Feiertagen. FDJler skandieren sie bei der Ankunft des sowjetischen Parteichefs zur zentralen Festveranstaltung am Freitag abend im Palast der Republik, Passanten rufen sie vor seinem Domizil in der Hauptstadt. Auch die Demonstranten skandieren den Kosenamen des großen Neuerers. Doch die Euphorie hält sich in Grenzen. Nicht allein deshalb, weil das Bad in der Menge im Geburtstagsprotokoll wohlweislich nicht vorgesehen ist. Es ist auch die Enttäuschung, daß Gorbatschow sich während des Geburtstagsbesuchs nicht auf die Seite der wachsenden Reformbewegung von unten stellt, daß er sich in diplomatischer Zurückhaltung übt und seine Kritik am Regime zwischen den Zeilen versteckt.

Für Gorbatschow muß diese Instrumentalisierung für einen überkommenen „Sozialismus in den Farben der DDR“ eine Zumutung sein, der er sich öffentlich (noch) nicht entziehen kann. Doch die angestrengt joviale Gestik, die seinen beklatschten Einzug im Palast begleitet, die verspannte Haltung, mit der er, auf dem äußersten Rand seines Sessels die endlose Festeloge Honeckers über sich ergehen läßt, reichen den Demonstranten auf der Straße nicht aus, um ihn zum Symbol ihres Aufbruchs zu küren. Gorbatschows Unbehagen verbleibt an diesem Abend der großen Inszenierung in halbversteckten Gesten. So etwa, wenn er Ceausescu vor der ordensbehängten Creme der DDR-Gesellschaft den Handschlag verweigert. Den Beifall nach der Internationalen versucht Gorbatschow zu stoppen, indem er sich mit einer abschließenden Handbewegung in den Sessel fallen läßt. Honecker, der den Moment ungetrübter Zustimmung gerne noch etwas hinauszögern will, zieht seinen artigen Kontrahenten wieder hoch. Der läßt es mit sich machen - halb widerstrebend.

„Sozialistische Antworten“

Gorbatschow vermeidet den Affront; auch in seiner Festrede, die sich besonders in ihrer historischen Passage kaum von der althergebrachten Sichtweise löst. Wenn sich die immer wieder von Beifall unterbrochene Rede insgesamt deutlich von Honeckers Beitrag abhebt, dann nicht nur wegen der versteckt kritischen Passagen, aus denen der Dissens ins Auge springt, sondern vor allem wegen des Kalter-Krieg-Tons, in dem Honeckers Auftaktrede in weiten Teilen gehalten ist. Mit brüchig-dünner Stimme versucht Honecker immer wieder das Entschlossenheitspathos zu intonieren, das seinem Kredo entspicht: Die Herausforderungen der Zeit werden ihre klare sozialistische Antwort finden. - Vor diesen Antworten graut es auch Gorbatschow. Und so setzt er dann doch ein paar Akzente, die ihn an diesem Abend kenntlich machen: Er spricht von der Begeisterung, mit der man in der DDR die sowjetische Reform verfolgt, spricht von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, was dann am nächsten Tag in der Sonderausgabe des 'ND‘ in „sozialistische Rechtsstaatlichkeit“ übersetzt wird; er zeigt sich überzeugt, daß die Zeit des uniformierten und standardisierten Sozialismus vorüber ist und daß alle überkommenen Momente, die die Entwicklung der Gesellschaft behindern, beseitigt werden. Das muß keine direkte Anspielung auf den Gastgeber sein.

Was Honecker hinter gezwungen wirkenden, kämpferischen Parolen zu verbergen sucht, muß an diesem Abend auch Ceausescu deutlich geworden sein. Eiseskälte schlägt dem Diktator auf der großen Freitreppe des Palastes entgegen. Wo ein paar Minuten vorher noch Jaruzelski und Rakowski mit Beifall empfangen werden, rührt sich keine Hand. Keine Ehrenformation, keine Blumenmädchen. Schweigend starren die locker wie in einer Theaterpause Herumstehenden auf den rumänischen Gast, der sich mühsam, an seiner Krawatte nestelnd, die steile Treppe hinaufquält.

Der Fackelzug, der am Freitag abend an der Ehrentribüne vorbeizieht, wird Ceausescu dann doch noch an rumänische Inszenierungen erinnert haben. Doch das martialische Ritual wird gebrochen durch die ausgelassene Stimmung der weit über hunderttausend FDJler, die mit Sonderzügen aus der ganzen Republik herbeigeschafft wurden. Wie immer, wenn in den letzten Jahren die Parteijugendlichen massenhaft auftreten, erinnert die Stimmung an eine Sportveranstaltung mit ausgelassenen Fans, die den Anlaß ihres Jubels nicht ganz ernst nehmen können. Johlend, unsinnige Parolen wie „Hasta la vista, cha, cha, cha...“ skandierend, hört die junge Garde der Partei über Lautsprecher das lächerlich -beschwörende Gelöbnis ihres Sekretärs: „Dieses Land ist unser Land, hier sind wir zu Hause, hier haben wir noch viel vor, hier verwirklichen wir unsere Pläne.“

Bürger, laßt das

Gaffen sein“

Ernste Miene zum absurden Spiel machen nur die gedrillten Ordner, die am nächsten Tag auch zur Aufstandsbekämpfung am Prenzlauer Berg eingesetzt werden, wo die Demonstration derjenigen hinzieht, die in diesem Land wirklich noch Pläne zu verwirklichen haben. Am 'adn'-Haus kommt es zu ersten massiven Prügelszenen, bei denen sich vor allem die jungen Stasi-Leute hervortun. Eher überfordert und deplaziert wirken dagegen die Volkspolizisten, die - mit Krawatte und Hut - der öffentlichen Störung der Ordnung hilflos ausgeliefert sind. Es gelingt ihnen nicht, den Zug zu spalten oder von seiner spontanen Route in den Norden abzuhalten. Mit 68er-Parolen - „Bürger, laßt das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein“ - versuchen die jungen Dableiber ihre etwas schwerfälligeren Bündnispartner von den Balkonen auf die Straße zu locken. Jede Form der Zustimmung

-hupende Taxis, junge Leute, die spontan aus der Straßenbahn aussteigen - werden frenetisch gefeiert. Erst nach über zwei Stunden, der Zug ist trotz heftiger polizeilicher Störmanöver an der Gethsemanekirche angelangt, bekommt die Staatsmacht langsam das Übergewicht. Jetzt ist alles im Aufgebot, was ein sicherer Sozialismus zu bieten hat: Vopos, Stasi, Betriebskampfgruppen, FDJ-Ordner, Wachregimenter, Hundeführer und Räumfahrzeuge. Die Demonstration verläuft sich, etliche flüchten in die Kirche. Eine bisher nicht zu ermittelnde Zahl von Demonstranten und Passanten wird wahllos verprügelt, verhaftet und in die umliegenden Gefängnisse verfrachtet. Aus Ost-Berlin: M. Geis & P. Bornhöf

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen