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AUSGEMENDELT

■ „Weissblume“ von Karin Boldemann im Ensemble-Theater

Wer kennt Karin Boldemann? Niemand. Sie ist 1947 von Deutschland nach Schweden emigriert. 1947, als einige schon wieder zurückkamen, ging Karin Boldemann weg, sie war 19. Die Nachwirkungen des im Nazideutschland Erlebten veranlaßten sie zu diesem Schritt.

Ihr Drama Weissblume ist wie eine spät nachgesandte Erklärung: es entfaltet die Logik, die ihre „halbjüdische“ Mutter dazu brachte, vor den Kindern und sich selbst die zunehmende Bedrohung zu kaschieren, bis schließlich das Schweigen zum eigentlichen Schreckgespenst wurde. Die weiße Blume meint dabei eine der Varianten aus der Kreuzung von weißer und roter Blume, die Gregor Mendel als Beleg für seine Vererbungslehre dienten. Für Hanna, die Hauptfigur des Dramas, beweist diese weiße Blume, daß sie nicht zwangsläufig jüdisch zu sein hat. Je mehr die äußere Bedrohung wächst, umso stärker klammert sie sich an die Vorstellung, daß sie vielleicht nicht halb und nicht viertel, daß sie vielleicht null Prozent jüdisch ist. Das Jüdische hat ihre Schwester Clara, die schwarze mit der gebogenen Nase, ein für allemal nach Amerika exportiert. Mit solchen Vorstellungen versucht sie sich selbst und die anderen Familienmitglieder zu beschwichtigen. Sie hat sich die Mendelschen Tafeln über den Schreibtisch gehängt. Indes bleibt, wie bekannt, das Verdrängte selten endgültig verschwunden. Zwar unterstützt sie ihr Mann Paul im Bagatellisierungsversuch, indem er sie bittet, bei der Einweihung der Fabrik neben den Nazischergen in der ersten Reihe zu sitzen, ihre Schwägerinnen dagegen reden offen über die „Gefährdung der Familie“ durch ein halbjüdisches Mitglied. Zwar spricht sich die Schwiegermutter entschieden gegen eine Scheidung aus „rassischen Gründen“ aus und stellt die Familie, wie ebenfalls am Beispiel der Familienporträts deutlich wird, in deren Galerie auch Hannas Bild Aufnahme findet, schützend um sie. Doch demonstrative Unterstützung kommt zu spät: Hannas Tochter Daniela wird von den Tanten auf ihre größer werdende Nase und ihre Ähnlichkeit mit der nach Amerika ausgewanderten Schwester der Mutter hingewiesen. Sie zerreißt sich selbst zwischen Prinzessinnen mit kleinen Nasen und Hexen mit großen Nasen, und schließlich begeht sie Selbstmord. Sie stirbt am Nichtfragendürfen und an der Angst, die Familie durch ihr Aussehen zu verraten. Sie stirbt aber auch an der Demütigung der Mutter, der das bronzene Mutterkreuz trotz ihrer vier Kinder verweigert wird; sie erstickt zuletzt an dieser Art Nebel, der die Mutter, die Nichtwahrhabenwollende, immer häufiger überfällt.

Karin Boldemann hat an Stelle des Selbstmords die Emigration gewählt, zum Nachdenken über ihre deutsche Kindheit die schwedische Sprache. Die Regisseurin Ingrid Ernst hat sie mit Erika Eller als Darstellerin aller Rollen nun an den Ort des Geschehens zurückgeholt. Wunderbar minutiös zeichnet Erika Eller die verschiedenen Akteure dieser Einkreisungsbewegung nach; seltsam schwerelos und unpathetisch konturiert sie Hannas Tragödie in einer Art Kammerspielspitzentanz.

Michaela Ott

Noch zu sehen: Freitag bis Sonntag, 13.-15.10., 20.30 Uhr im Ensemble Theater, Hasenheide 54, Tel. 692 32 39 und später voraussichtlich andernorts.

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