: Wendepunkt: Wittgenstein
Ein Gutachten, aber keine Lehre aus einem „Skandal“ ■ K O M M E N T A R E
Fast ein Jahr nach der Abwahl des mehrheitlich fundamentalistisch orientierten Vorstands der Grünen liegt nun ein Gutachten zum skandalumwitterten Umbau der grünen Bildungsstätte Haus Wittgenstein vor, dessen Ergebnisse nicht überraschen. Persönliche Bereicherungen wurden nicht festgestellt. Daß es Schlampereien in der Bauausführung gab, war schon damals unübersehbar, unterschiedlich bewertet wurde lediglich, ob dies für das grüne Image beeinträchtigend sei oder nicht. Den einen war eine desolate Buchhaltung eher ein Beleg für noch vorhandene Bewegungsqualitäten und die Beschäftigung von Ex-Drogis allemal löblich, auch die sonst Schwarzarbeit genannten Beschäftigungsverhältnisse gerechtfertigt für die gute Sache. Dem stand lediglich die Frage entgegen, ob nicht gerade eine Partei mit dem moralischen Anspruch der Grünen gegenüber anderen Parteien den gläsernen Taschen in der eigenen Organisation höchsten Vorrang geben sollte.
Ein Jahr danach kann nun unbelasteter Bilanz gezogen werden. Tatsächlich ging es überhaupt nicht um Wittgenstein, der Vielzahl der damaligen Vorwürfen und Unterstellungen gegenüber dem Ditfurth-Vorstand zum Trotz. Wittgenstein kam nur zur rechten Zeit. Die Umstände des Bauprojekts wurden von den Realos vor allem deshalb zum Skandal erklärt, weil man sich in der heillos festgefressenen Flügelauseinandersetzung nicht anders zu helfen wußte. So wurde Wittgenstein zum Hebel, um eine die Partei lähmende Frontstellung aufzubrechen und neue Mehrheiten zu erringen, die in der politischen Debatte nicht zu erzielen waren. Die Rechnung ging auf; Wittgenstein wurde zum Synonym für Verdächtigungen und hochgekochte Emotionen, nicht des kühlen Abwägens. Zugleich bereicherte die Affäre das Instrumentarium der Grünen um das Mittel der Intrige. Der alte Vorstand hat seinerseits seinen Teil dazu beigetragen, die Basis gegen sich aufzubringen, indem er Kritik an Bauprojekt vor allem als Kritik an der eigenen Position mißverstand.
Ob der alte Vorstand „schuld“ an Wittgenstein war, das war bereits damals auch für jene nebensächlich, die diese Kampagne betrieben. Wittgenstein, so stellt sich rückblickend dar, wurde zum Wendepunkt der Parteigeschichte: Der „Skandal“ markiert den endgültigen Abschied von der liebenswerten Chaotik der Gründerjahre und manövrierte die fundamentalistischen und radikalsozialistischen Positionen ins Partei-Abseits. Warum es zu einer derart zugespitzten Konfrontation kam, in der Wittgenstein zum gordischen Knoten werden konnte und welche Lehren die Partei für die Zukunft daraus zieht, diese Frage haben sich die Grünen bisher nicht gestellt. Wittgenstein ist das Ergebnis einer jahrelang gepflegten Unfähigkeit, politisch Kontroverses tatsächlich auszutragen und dann auch zu entscheiden. Die Flügel hatten die Parteimehrheit zur Geisel gemacht in einem Streit, bei dem es im Kern um die Kontroverse Sytemopposition oder parlamentarische Demokratie ging. Die Grünen haben die Frage nicht zu beantworten brauchen, seit Wittgenstein hat sie sich von selbst erledigt. Über dieses Lehrstück eines politischen Etikettenschwindels sind die Grünen handlungsfähiger, berechenbarer und koalitionsfähiger geworden - aber auch zu einer ganz normalen Partei.
Gerd Nowakowski
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