Es brodelt in der DDR: Tritt Honecker ab?

■ ZK-Sekretär Kurt Hager fordert „Erneuerungen“ / Erweiterte Sitzung des Politbüros hält Krisensitzung ab / In den DDR-Medien wird die Kritik lauter

Berlin (taz/dpa/ap) - In Ostberlin hat - gut unterrichteten Kreisen zufolge - das Politbüro in erweiterter Zusammensetzung getagt. Bei der Krisensitzung hätten ZK -Mitglieder Honecker darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Anzeichen zu Streiks in den Betrieben mehrten. Es dürfe keine Zeit mehr vergeudet werden. Die Partei müsse jetzt in die Offensive gehen, sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen und die immer drängenderen Fragen der Bürger beantworten, hätte der dringende Appell an Honecker gelautet. Auch sein Rücktritt werde, so verlautete aus seiner Umgebung, nicht mehr ausgeschlossen. Erich Honecker hat seinen für Oktober geplanten Besuch in Dänemark abgesagt.

Am Mittwoch hat sich zum ersten Mal ein SED -Politbüromitglied öffentlich positiv auf die Reformbestrebungen in der DDR bezogen. Kurt Hager (77), der ZK-Sekretär für Kultur und Wissenschaft, erklärte in einem Interview mit 'Moscow News‘, Aufgabe der allernächsten Zeit sei eine „präzise Konzeption für die Verwirklichung erforderlicher Erneuerungen“ in der DDR. Dies setze, so Hager, eine „aktivere Einbeziehung der Bevölkerung in die Lösung gesellschaftlich bedeutsamer Probleme und eine Verbesserung der Informationspolitik in der DDR voraus“. Das Interview, das bereits am Samstag gemacht worden war, wurde am Mittwoch von Radio DDR ausgestrahlt.

Die Medien der DDR befinden sich gegenwärtig in einem Zustand der Verwirrung. So wurde am Dienstagabend in der Hauptnachrichtensendung des Fernsehens, der Aktuellen Kamera, eine sehr schroffe Erklärung des Ministeriums des Inneren verlesen, die die üblichen Denunziationen gegen Bürgerrechtler und westliche Journalisten wiederholte. Dann aber wurde der Stellvertretende Leiter der Kampfgruppen in Leipzig, Wolfgang Rosch, interviewt, der den Verlauf der Massendemonstration am Montag als „Sieg der Vernunft“ bezeichnete. Zunächst sagte er, der Abend habe gezeigt, daß die Kampfgruppen in der Lage seien, „die Straßen von Randalierern freizuhalten“, stellte dann aber fest, daß sie auch bereit seien, sich zu unterhalten und sich zu verständigen. Auch sie hätten Fragen und zum Teil die gleichen Sorgen wie die Leute, die auf der Straße waren. (Zur aktuellen Situation in Leipzig siehe Interview auf Seite 6)

Während das Zentralorgan der SED, das 'Neue Deutschland‘, an der dogmatischen Linie festhält, war schon in der 'Jungen Welt‘, der Zeitung der FDJ, die Berichterstattung höchst widersprüchlich. Neben einer Wiederholung des Offenen Briefes einer Leipziger Kampfgruppe (die taz berichtete), notfalls „mit der Waffe in der Hand“ gegen die Bürgerrechtler vorzugehen, stand ein Bericht über den Montagabend in der Leipziger Nikolai-Kirche: „In der Kirche St.Nicolai hatten unter anderem mehrere hundert SED -Mitglieder Platz genommen.“ „Im Kircheninnern entstand eine - nicht nur für mich - erstaunliche Atmosphäre gegenseitigen Einvernehmens über aktuelle gesellschaftliche Probleme.“

Ebenfalls in der FDJ-Zeitung findet sich ein Bericht über ein Treffen zwischen Rock-Musikern, die den Aufruf der Unterhaltungskünstler mit Reformforderungen unterzeichnet hatten, und dem Obersten Berufsjugendlichen der DDR, dem 1.Sekretär der FDJ Aurich. Die Gesprächsatmosphäre erhellt wohl folgendes Zitat aus dem 'Junge-Welt'-Artikel: „Einige ihrer Besorgnisse teilend, verwies er (Aurich) auf die kämpferische Haltung der FDJ-Mitglieder während des Fackelzuges...“

Die MitarbeiterInnen des Berliner Ensemble bereiten für Mittwochabend eine Erklärung vor, die vor den Zuschauern verlesen wird, in der „öffentliche Diskussion“ gefordert wird. In dem vorab bekannt gewordenen Text heißt es: „Die Zeit drängt.“

In den Zeitungen der Blockparteien, so in der 'Neuen Zeit‘ der CDU, werden unterdessen vor allem in Leserbriefen Rufe nach Dialog und größerer Meinungsvielfalt laut.

Der Generalsuperintendent der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, Günter Krusche, erklärte am Mittwoch im Deutschlandfunk, er habe Hinweise, daß die offizielle Anerkennung der Oppositionsbewegung „Neues Forum“ in einigen DDR-Bezirken außerhalb Ostberlins unmittelbar bevorstehe. Fortsetzung auf Seite 2

Siehe auch Kommentar auf Seite 8

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Krusche sagte, er sei optimistisch, daß es zwischen Staatsführung und Opposition zu einer Entspannung und zum Dialog komme.

In Dresden wurde bekannt, daß 20 Bürgervertreter die Teilnahme des Ersten SED-Bezirkssekretärs Modrow an der nächsten Gesprächsrunde mit den Bürgerrechtlern am 16. Oktober vorgeschlagen haben.

In der Elbestadt sind offenbar doch noch nicht alle festgenommenen Demonstranten aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden. Nach Angaben des Dresdner Superintendenten Wolfgang Scheibner gab es in der Nacht zum Mittwoch immer noch zahlreiche Eltern, die in großer Sorge auf deren Freilassung warteten. In Berlin sollen von den über 1.000 Festgenommenen laut Kirchenkreisen mindestens 500 inzwi

schen freigelassen worden sein.

Polen schickt seit Dienstag Flüchtlinge nicht mehr in die DDR zurück. Seit dem 18. September hatten polnische Grenzer über 600 DDR-Bürger, die über die Grenze gekommen waren, den DDR-Grenzbehörden übergeben. In der Warschauer Botschaft befinden sich schon wieder weit mehr als 500 Flüchtlinge in der Botschaft der BRD. Aus Ungarn sind von Dienstag bis Mittwoch wieder 386 in Bayern eingetroffen.