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Haarrisse im Beton der SED

■ Erklärung des Politbüros mit Reformandeutungen / Kirche optimistisch, Opposition skeptisch, Sowjets zufrieden / Hager in Moskau / Akademie der Künste und Kulturbund fordern „Erneuerung“ / Leipziger Oberbürgermeister kündigt Amnestie für Demonstranten an

Berlin (ap/dpa) - Die jüngste Erklärung des SED-Politbüros zu möglichen politischen Veränderungen ist von der Kirche der DDR als „Einstieg in einen Gesprächsprozeß“ gewürdigt worden, Vertreter der Opposition warnten aber am Donnerstag vor Euphorie. Der Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Manfred Stolpe, begrüßte den in Aussicht gestellten Dialog. Die DDR-Opposition, unter ihnen Rolf Henrich und Wolfgang Ullmann, äußerten sich dagegen skeptisch (siehe Seite 3).

Der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, sagte am Donnerstag zur Erklärung des SED -Politbüros: „Wir können anderen Ländern keine Rezepte vorschreiben, aber wir haben beispielhaft aufgezeigt, daß Probleme durch Dialog gelöst werden sollten. Daher kann die abgegebene Erklärung von uns nur begrüßt werden.“

Unterdessen fanden Hinweise aus der SED neue Nahrung, wonach in der SED über eine Ablösung von DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker diskutiert wird. Die Westberliner Zeitung 'Der Tagesspiegel‘ schrieb am Mittwoch unter Berufung auf Informationen aus Moskau, eine „sehr starke Mehrheit“ im Politbüro befürworte dies. Genährt wurden diese Gerüchte auch durch die überraschende Reise einer SED -Delegation mit Kurt Hager an der Spitze am Donnerstag nach Moskau, offiziell zu den dort stattfindenden DDR -Kulturtagen.

Das SED-Zentralorgan 'Neues Deutschland‘ und die anderen DDR-Zeitungen brachten die nach zweitägigen Beratungen am Mittwoch abend veröffentlichte Erklärung des Politbüros am Donnerstag in großer Aufmachung auf den ersten Seiten (siehe Dokumentation auf Seite 3).

Der Vorsitzende der Ost-CDU, Gerald Götting, schreibt in einem Kommentar in dem CDU-Zentralorgan 'Neue Zeit‘ am Donnerstag, der offenkundig vor der Veröffentlichung der Politbüro-Erklärung abgefaßt wurde: „Manche Mitglieder und Mitbürger sind verständlicherweise tief bewegt über Entwicklungen, die uns bedrücken, und über das Schweigen oder über manche Kommentare.“ Auch ihnen sollte jetzt die politische und menschliche Zuneigung gelten. „Bürgern aufmerksam zuzuhören, gehört zur Pflicht jedes Partei- und Staatsfunktionärs.“

Nach Informationen aus Ost-Berlin soll der Leipziger Oberbürgermeister Seidel bei einem Treffen mit Kirchenvertretern zugesagt haben, alle seit dem 11. September festgenomnmenen und verurteilten Demonstranten würden freigelassen.

Die Akademie der Künste der DDR hat „ein neues Verständnis für den Gebrauch der Medien“ gefordert und dazu aufgerufen, „ein umfassendes, offenes und öffentliches Gespräch zu beginnen“. In einer ungewöhnlich kritischen Erklärung, die am Donnerstag sogar von der amtlichen DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘ veröffentlicht wurde, heißt es, „die alltäglichen Erfahrungen des Bürgers prägen die öffentliche Meinung in unserem Land, die oft genug im Gegensatz zu der Fortsetzung auf Seite 2

Kommentare auf Seite 8

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veröffentlichten Meinung steht“. Dies sei „ein Widerspruch, der zu empfindlichen Störungen des moralischen und geistigen Klimas in der Gesellschaft führt“.

Dieser Widerspruch müsse „durch ein neues Verständnis für den Gebrauch der Medien aufgelöst werden, durch das auch eine Ritualisierung der politischen Sprache zu überwinden wäre, die häufig den gemeinten Sinn nicht mehr trägt“. Der Sozialismus brauche „öffentliches Denken als Instrument und Korrektiv seiner Pläne“. Präsident der Akademie ist der Intendant des Berliner Ensembles, Manfred Wekwerth.

ADN verbreitete am Donnerstag außerdem ein Kommunique des Kulturbundes der DDR, in dem das Präsidium eine „unerläßliche Erneuerung unserer Gesellschaft“ fordert und „die Besorgnis vieler Bundesfreunde und Gesprächspartner aus allen Bezirken über die entstandene Lage“ teilt. Das Präsidium äußert sich „sehr betroffen“ darüber, „daß viele Tausende ihre Heimat, unser

Land, verlassen“. Das Wirken der Gegner dabei sei für jeden offensichtlich, „aber wir stellen uns auch die Frage, warum es uns nicht gelungen ist, vor allem junge Menschen unter den Auswanderern für das schwierige, aber perspektivreiche Leben bei uns zu gewinnen“. Die „penetranten Aufforderungen zu Reformen“ des Gegners „können uns nicht davon abhalten, das zu reformieren, was wir selbst im Interesse des Sozialismus für dringend erforderlich halten“.

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