piwik no script img

Die Ruhe nach dem Sturm von Gethsemane

Die Ost-Berliner Oppositionsszene hat sich noch einmal in der Gethsemanekirche getroffen / Am Schauplatz der polizeilichen Prügelorgien vom Wochenende ist die wichtigste gemeinsame Forderung: Freilassung der Inhaftierten  ■  Von Tobias Lehmann

Ost-Berlin (taz) - Der Schock sitzt tief. Noch liegen die Opfer der Stasi-Prügeleien in den Krankenhäusern, noch sitzen nicht wenige von denen, die am Wochenende nach dem Fürbittgottesdienst in der Gethsemanekirche eingekesselt wurden, im Rummelsburger Knast.

Dennoch herrscht am Donnerstagabend in der Gethsemanekirche nicht mehr angespanntes Warten auf den Polizeikessel wie noch drei Tage zuvor. Nach den ersten Annäherungssignalen der Parteispitze hat sich nachdenkliche Aufbruchstimmung eingestellt.

Während vor der Tür eine alternative Blaskapelle noch mit schräger Musik zur Diskussion einlädt, wechseln sich in der vollbesetzten Kirche Wortmeldungen aus dem Publikum mit erfreulich kurzen Statements jener ab, die auf den Stühlen im Altarraum das „Podium“ darstellen: Da sind die jungen Leute von der Mahnwache vor der Kirche genauso vertreten wie die Oppositionsgruppen. Von den Sozialdemokraten bis zum „Aufbruch jetzt“ und dem „Neuen Forum“. Das Thema: Was sind unsere wichtigsten Forderungen, sollte es zu Gesprächen mit dem Staat kommen? „Waffenstillstandsgespräche“ nennt sie jemand, und man redet so, als gäbe es bereits einen Runden Tisch. Gegen die Vorschläge, die in die Debatte geworfen werden, regt sich selten Widerspruch. Ganz obenan stehen die Freilassung der Inhaftierten und das „Aufarbeiten der Brutalitäten“. Das ist der Schock, den die „Leistungsschau der inneren Aufrüstung“ vom Wochenende produziert hat: mit Hundestaffeln, Wasserwerfern und Schneeräumern ähnelnden Fahrzeugen.

Unwidersprochen bleiben, im Bewußtsein der neugewonnenen Stärke, auch weitere Vorbedingungen für einen Dialog: Zulassung aller oppositionellen Gruppen und „freie Meinungsäußerung“. Schließlich soll die Parteiführung den Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen eingestehen.

Immer wieder scheint die Angst durch, man könne noch vor Beginn des Dialogs von der Kirche ausgetrickst und sie könnte wieder zum alleinigen Verhandlungspartner der SED werden. Nein, alle sollen miteinander reden. Man weiß, daß an einer Veränderung „auch die vielen Reformwilligen in SED und Gewerkschaften beteiligt werden müssen“. Und dann, in immer neuen Varianten: Plädoyers für angstfreie Meinungsäußerung. Alle wissen, daß sie auf die Infrastruktur der Kirche noch nicht verzichten können. Viele sind verunsichert, daß ab nächster Woche die Mahnwache vor der Gethsemanekirche nur noch von 16 bis 22 Uhr abgehalten werden darf und die Fürbittgottesdienste künftig in anderen Kirchen stattfinden müssen. So hat es der hiesige Gemeindekirchenrat beschlossen - wie der Pfarrer erläutert wegen der exzessiven Beanspruchung der Kirche. Doch viele ahnen, daß hinter dem Beschluß der Druck des SED-gelenkten „Rats des Stadtbezirks“ steckt. Noch ist unklar, wo man sich nächste Woche treffen wird.

Einer, der sich als Graphiker vorstellt, wagt auszusprechen, woran vor einer Woche noch niemand gedacht hätte: „Formuliert eure Bedürfnisse, und wir kommen in die Betriebe.“ Das Bedürfnis weiterzureden, ist groß. Als die mikrophonverstärkte Diskussion zu Ende ist, bilden sich im Altarraum lauter Grüppchen um die Podiumsteilnehmer, Adressen und Telefonnummern werden ausgetauscht, Ideen produziert, wie es weitergehen könnte: Einer schlägt vor, wie Solidarnosc und die Charta 77, einen festen Ort zu finden, der ständig mit Blumen des Protests übersät sein sollte.

Und wenn die kränklichen Herren vom Politbüro das nicht schrecken sollte - eine Nachricht an diesem Abend wird es bestimmt: Die komplette Belegschaft des Regierungskrankenhauses hat an SED-Bezirkssekretär Schabowski eine Resolution geschickt, in der sie „volle Übereinstimmung“ mit der Protestbewegung bekundet. Wird sich Honecker für die nächste Gallenoperation nun nach Bukarest ausfliegen lassen?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen