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Zwischen Fundamentalismus und halbem Realismus

Der SPD-Außenpolitiker Karsten Voigt beschäftigt sich mit der Friedenspolitik der Grünen: „Ein Mangel an konzeptioneller Klarheit und Handlungsfähigkeit“  ■ D O K U M E N T A T I O N

(...) Das auffälligste Merkmal der Äußerungen der Grünen zur Friedens- und Sicherheitspolitik besteht darin, daß zwischen denen, die die Nato für abrüstungsunfähig halten und den sofortigen Austritt aus ihr fordern, und denen, die die Nato sogar für umweltpolitische Ziele nutzen wollen oder die sie auf absehbare Zeit aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen erhalten wissen wollen, weder tagespolitische noch konzeptionelle Gemeinsamkeiten herrschen. Dies führt zu einem Mangel an konzeptioneller Klarheit und Handlungsfähigkeit in der Außen- und Friedenspolitik der Grünen, die sie in diesem Bereich als parlamentarische Partner leider noch als unkalkulierbar erscheinen lassen.

Der Streit zwischen Fundamentalisten und Realpolitikern mag innerhalb der Grünen zu ertragen sein. Innerhalb einer Reformkoalition würde er zur Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit führen. Die von Alfred Mechtersheimer kürzlich im 'mediatus‘ vorgeschlagene Unterscheidung zwischen den Maßnahmen, in denen SPD und Grüne „analoge“ Positionen vertreten, und jenen, in denen ihre Positionen „inkompatibel“ sind, ist konzeptionell künstlich. Sie wäre in der politischen Tagespraxis nicht tragfähig. In neun von elf Punkten, in denen Alfred Mechtersheimer analoge Positionen sieht, impliziert die Zustimmung zu dieser Liste reformerischer Gemeinsamkeiten für die Grünen zugleich die Preisgabe eines jeden außen- und sicherheitspolitischen Fundamentalismus für die Dauer einer Regierungskoalition.

Zu Punkt 1: Wenn SPD und Grüne mit parlamentarischen Mehrheiten die „Verringerung der Präsenzstärke der Bundeswehr“ durchsetzen wollten, müßten sie sich auch über die verbleibende Präsenzstärke einigen.

Zu Punkt 2: Wenn SPD und Grüne in der Opposition für eine „Kürzung des Verteidigungshaushaltes“ eintreten, so müßten Grüne in einer Regierungskoalition einem gekürzten Verteidigungshaushalt dann auch durch ihre Zustimmung zur parlamentarischen Mehrheit verhelfen.

Zu Punkt 3: Wenn SPD und Grüne den „Verzicht auf Wehrdienstverlängerung“ wollen, dann müßten Grüne als Regierungspartei die Existenz einer allgemeinen Wehrpflicht faktisch hinnehmen.

Zu Punkt 4: Wenn SPD und Grüne die „Streichung von Großprojekten wie Jäger90“ durchsetzen wollen, so würden sie als Regierungsparteien andererseits auch zahlreichen anderen militärischen Beschaffungsmaßnahmen gemeinsam zustimmen müssen.

Zu Punkt 5: Wenn SPD und Grüne im Laufe einer Regierungsperiode die „Beseitigung der atomaren Gefechtsfeldwaffen“ realisieren wollen, so werden sie andererseits die Überwindung des Systems wechselseitiger Abschreckung im Laufe von über vier Jahren keinesfalls erreichen können. Dies bedeutet faktisch, daß sie während ihrer Regierungszeit eine Mitverantwortung für die dann noch geltende nukleare Abschreckungsstrategie der Nato übernehmen.

Zu Punkt 6: Der „Abzug chemischer Waffen ohne Wiederstationierungsoption“ ist für Friedenszeiten Konsens zwischen allen im Bundestag vertretenen Parteien.

Zu Punkt 7: „Die Einstellung aller Tiefflugaktivitäten“ läßt sich einerseits nicht im nationalen Alleingang, sondern aufgrund vertraglicher Verpflichtungen der Bundesrepublik nur in Verhandlungen mit den Alliierten durchsetzen und wird andererseits - solange deutsche und alliierte Flugstreitkräfte in der Bundesrepublik stationiert sind nicht zur Einstellung aller übrigen militärischen Flugübungen führen.

Zu Punkt 8: Die „Einschränkung von Manövern“ setzt voraus, daß unter Mitverantwortung grüner Regierungsmitglieder in der Bundesrepublik auch weiter - wenn auch in Zahl und Umfang verringert - militärische Manöver durchgeführt würden.

Zu Punkt 9: Die „Kündigung des SDI-Abkommens“ ist möglich und sinnvoll, zahlreiche andere Abkommen - wie zum Beispiel das WHNS-Abkommen - werden auch nach 1990 weiterhin in Kraft bleiben.

Zu Punkt 10: Die „Ratifizierung der Zusatzprotokolle von 1977“ kann und sollte möglichst bald geschehen.

Zu Punkt 11: Die „Begrenzung des Rüstungsexports“ impliziert das Andauern von Rüstungsexporten in Nato-Länder, solange es in der Bundesrepublik eine Rüstungsindustrie gibt.

Meine Schlußfolgerung:

Die Grünen würden mit einer Teilnahme an einer reformorientierten Regierung also auch an einer Reform der Nato und ihrer Politik, aber im Gegensatz zu Alfred Mechtersheimers fundamentalistischen Bekenntnissen nicht an deren Schwächung und Desintegration mitwirken. Über diesen Tatbestand sollten sie auch vor den Wahlen weder sich noch ihre Wähler hinwegzutäuschen versuchen.

SPD und Grüne unterscheiden sich nicht in der politischen Hoffnung auf eine waffenfreie und gewaltfreie Welt. Beide fußen auch gemeinsam auf den Traditionen der deutschen und internationalen Friedensbewegung. Im Unterschied zu den Grünen aber strebt die SPD nicht nur danach, abrüstungspolitische Ziele zu erreichen, sondern auch nach der Lösung sicherheitspolitischer Probleme. Die europäische Geschichte kennt zahlreiche Beispiele dafür, daß Wehrlosigkeit nicht vor aggressiven Absichten geschützt hat. Aus diesem Grunde bestehen reformerische Politiker in Ost und West zu Recht darauf, daß beidseitig sowohl Angriffsabsichtern beseitigt wie Angriffsfähigkeiten abgebaut werden, das heißt Friedens- und Abrüstungspolitik muß auch zur Lösung sicherheitspolitischer Probleme beitragen.

Nationale Initiativen der Bundesregierung sind sinnvoll und wünschenswert. Nationale Alleingänge einer Bundesregierung in der Sicherheits- und Abrüstungspolitik aber würden nicht nur von unseren Nachbarn im Osten als Gefährdung der friedens- und sicherheitspolitischen Stabilität in Europa empfunden werden. Die multilaterale Einbettung der deutschen Friedens-, Außen- und Sicherheitspolitik ist von den Grünen leider in ihrer Mehrheit bisher weder verstandene noch akzeptierte Konsequenz der Geschichte, der strategischen Lage, dem Geist des Grundgesetzes und der vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland.

Die SPD will den antagonistischen Multilateralismus von Warschauer Vertrag und Nato in einer europäischen Friedensordnung überwinden. Die SPD will aber nicht einseitig aus den Bündnissen aussteigen, weil der damit verbundene Rückfall in eine primär nationalstaatlich organisierte Friedens- und Sicherheitspolitik den Frieden in Europa nicht stabilisieren, sondern gefährden würde. Es geht der SPD deshalb auch nicht vorrangig um den Abzug „ausländischer Streitkräfte aus der Bundesrepublik“, sondern um den Abbau aller Truppen - gleichgültig welcher Nationalität - mit dem Ziel einer beiderseitigen Angriffsunfähigkeit. Dieses Ziel ist mit und in der Nato ohne Gefährdung der sicherheitspolitischen Stabilität und letztlich auch schneller zu erreichen als im nationalen Alleingang. Das Festhalten an der Mitgliedschaft in der Nato ist deshalb für die SPD auch Konsequenz ihrer friedens- und sicherheitspolitischen Strategie und im Gegensatz zu Alfred Mechtersheimers Vermutungen nicht Ausfluß eines kurzatmigen taktischen Kalküls.

Ich gehöre zu denjenigen, die für die SPD die Möglichkeit einer rot-grünen Zusammenarbeit auf Bundesebene eröffnen wollen. Gerade deshalb darf man nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik angesichts der Mehrheitsbeschlüsse bei den Grünen einer der Bereiche ist, der einer handlungsfähigen Zusammenarbeit der SPD mit den Grünen bisher immer noch am meisten im Wege stehen könnte.

Den hier in Auszügen dokumentierten Beitrag stellte Karsten Voigt am Donnerstag letzter Woche in Bonn der Presse vor.

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