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Die SED im „Dialog“ ohne die Opposition

■ Das Politbüro zieht durch die Betriebe und verhandelt mit der Kirche - aber das Neue Forum bleibt tabu

Die Bezirkschefs der Partei schwärmen aus, und die DDR -Presse darf berichten, welche Klagen die Werktätigen vorzubringen haben. Auch die evangelische Kirche wird wieder hofiert, sie dient dem Staat als Vermittler. Denn mit der nichtkirchlichen Opposition zu reden - vor allem mit dem Neuen Forum, das 25.000 Unterschriften gesammelt hat -, scheut die Partei wie der Teufel das Weihwasser.

Die Wochenendausgaben der Ostberliner Zeitungen waren voll mit Berichten über die basisnahen Aktivitäten der Parteiprominenz. Da sprach der Berliner Bezirkssekretär Schabowski mit Arbeitern von VEB Bergmann-Borsig desjenigen Betriebes, aus dem Ende September 480 Gewerkschafter ein Protestschreiben an den Vorsitzenden des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB, Harry Tisch, geschickt hatten. In dem Schreiben (dokumentiert in der taz vom 9.10.) war die Berichterstattung über die Ausreisewelle in den DDR -Medien heftig kritisiert worden. Jetzt sprach Schabowski - so das 'Neue Deutschland‘ - mit Vertretern des Betriebes über Medienpolitik, Reisemöglichkeiten, Wohnraumvergabe und „Fragen der 'großen Politik'“. Dabei habe „in dieser Runde niemand aus seinem Herzen eine Mördergrube“ gemacht.

Harry Tisch machte derweil Arbeitern der Elbewerft Boizenburg seine Aufwartung. Über die Unterredung wurde nicht nur im DDR-Fernsehen am Freitag abend, sondern auch tags darauf im 'Neuen Deutschland‘ ausführlich berichtet. Basiskritik auch hier: Der Schiffbauer Gerhard Schiborowski wurde mit den Worten zitiert, daß es noch immer „bei Lohn und Prämien zuviel Gleichmacherei“ gebe: „Wer sich auf Kosten anderer einen schönen Tag macht, der soll das auch am Portemonnaie merken.“

In Karl-Marx-Stadt war es Politbüromitglied Siegfried Lorenz, der sich selbstkritisch gab. Das Leistungsprinzip müsse „konsequenter durchgesetzt“,„Mitbestimmung und demokratische Kontrolle der Werktätigen“ müßten „wirksamer praktiziert“ werden.

In Magdeburg erklärte Politbüromitglied und Bezirkssekretär Werner Eberlein bei einem Treffen mit Stahlarbeitern, die „wichtigste Frage der Zeit“ müsse „in den Werkhallen und Fabriken beantwortet“ werden. Die Arbeiter hätten Kritik an „Leistungshemmnissen im eigenen Betrieb“ sowie an der „Berichterstattung der Medien in der Vergangenheit“ geübt.

Auch sonst beschäftigten sich die DDR-Zeitungen am Sonnabend auf ihre Weise mit den Problemen in ihrem Land. Aufmacher war überall das Gespräch zwischen Erich Honecker und den Vorsitzenden der anderen DDR-Parteien über „aktuelle Aufgaben bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR“. Bei diesem Gespräch hat der Staatsratsvorsitzende die vorsichtige Öffnung, die in der „Erklärung“ des Politbüros vom Mittwoch angekündigt worden war, bestätigt.

Alle DDR-Zeitungen ließen wieder BürgerInnen zu Wort kommen, die eine offene Diskussion der Probleme fordern: Informationspolitik, Reisemöglichkeiten, Versorgungslage, Subventionspolitik und eine Änderung des Wahlgesetzes.

Auch die Zeitungen der drei in der Volkskammer vertretenen „Blockparteien“ meldeten sich wieder zu Wort. In einem Leitartikel der CDU-Zeitung 'Neue Zeit‘ heißt es: „Denken ist gleichsam als erste Bürgerpflicht in dieser wichtigen Phase der Entwicklung dringend erwünscht.“ Aus vielen Wortmeldungen der Mitbürger klinge eine „schätzenswerte Ungeduld“. Sie sollte aber „mit Besonnenheit gepaart“ sein. In dem Artikel wird auch darauf verwiesen, daß Journalisten „einiges tun müssen, um Vertrauen der Leser neu zu gewinnen“.

In einem Kommentar der Zeitung der Liberal-Demokratischen Partei ('Der Morgen‘) heißt es, man müsse von „den Formeln und Losungen zu wirklichen Taten“ übergehen. Unvermeidliche Entscheidungen gehörten nicht weiter auf die lange Bank geschoben.

taz/dpa

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