: Bericht zum Massaker in Tiflis
■ Georgische Untersuchungskommission: Ligatschow, Jasow und Tschebrikow tragen Mitverantwortung
Moskau (afp/taz) - Führende sowjetische Politiker tragen einen Teil der Verantwortung für das Massaker, das Sondereinheiten des Moskauer Innenministeriums am 9.April dieses Jahres in Tiflis unter nationalistischen Demonstranten angerichtet hatten. Dies gab die georgische Untersuchungskommission bekannt, deren Ergebnisse jetzt in der Zeitung 'Jugend Georgiens‘ veröffentlicht wurden. Direkt verwickelt waren nach Auffassung der Kommission der führende Parteikonservative Ligatschow, Verteidigungsminister Jasow und der ehemalige KGB-Chef Tschebrikow, der am 20. September aus dem Politbüro ausgeschieden ist. Die Kommission schildert zunächst die rechtswidrigen Handlungen leitender georgischer Politiker und wendet sich anschließend der Moskauer Unionsführung zu: „Die Verantwortung der Zentralorgane der Macht müssen ebenfalls festgestellt und die Schuldigen bestraft werden.“ Falls dies nicht geschehe, werde die „Verantwortung für diese Tragödie auf die gesamte Staatsführung zurückfallen“.
In dem Bericht heißt es, bei dem bewaffneten Übergriff seien 19 Menschen, darunter 16 Frauen, getötet und zahlreiche weitere verletzt worden. Die Truppen hätten um vier Uhr morgens die rund 10.000 Menschen angegriffen, als die Menge sich hingekniet habe, um zu beten. Viele Mütter seien auf dem Platz im Zentrum Tiflis‘ gewesen, Fortsetzung auf Seite 2
um ihre Kinder zu beschützen. Die georgische Kommission ist davon überzeugt, daß sämtliche Befehle in Tiflis im Einvernehmen mit den zentralen Organen in Moskau erteilt wurden. Demgegenüber hatte Vizestaatschef Lukjanow vor dem Kongreß der Volksdeputierten behauptet, die georgische Führung habe
eigenmächtig gehandelt. In dem Kommissionsbericht wird jedoch festgestellt: „Die illegale Entscheidung, zu bewaffneter Gewalt zu greifen, um die Demonstration auseinanderzutreiben, wurde mit dem Einverständnis von Viktor Tschebrikow und auf Anordnung von Verteidigungsminister Dimitri Jasow gefällt.“ Sie deckt auf, daß Ligatschow am 7.April eine Zusammenkunft im Zentralkomitee geleitet hat, auf der entschieden wurde, dem Wunsch der georgischen kommunistischen Partei zu entsprechen, die die Entsendung von Truppen in die Hauptstadt der Teilrepublik gefordert hatte. Bei der Versammlung seien die Politbüromitglieder Sliunkow, Tschebrikow und Wadim Medwedew anwesend gewesen, sowie Lukjanow, Jasow, Rasumowski, außerdem KGB-Chef Kriutschkow, der seit dem 20.September Vollmitglied des Politbüros ist, und der stellvertretende Innenminister Wassili Truchin. Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow befand sich zu dieser Zeit nicht in Moskau, er war bis zum 7.April auf Staatsbe
such in Kuba und Großbritannien. Am folgenden Tag habe eine zweite Zusammenkunft zum Thema Georgien stattgefunden, die, da Ligatschow diesmal abwesend war, von Tschebrikow geleitet wurde. In der Zwischenzeit hatte die georgische Parteiführung das Einverständnis des Zentralkomitees der sowjetischen KP gefordert, in Georgien den Ausnahmezustand ausrufen zu dürfen, um die extremistischen Rädelsführer zu stoppen und die Zensur der Medien zu verstärken. Die Kommission unterstreicht, daß Lukjanow diese Passage ausgelassen habe, als er vor dem Kongreß der Volksdeputierten das Telegramm vorlas, das an das Zentralkomitee gerichtet war.
Die getroffenen Entscheidungen waren illegal, da nach der sowjetischen Verfassung allein das Präsidium des Obersten Sowjet befugt ist, den Ausnahmezustand zu verhängen. Das Präsidium des Obersten Sowjets der betroffenen Teilrepublik muß dem zustimmen. Die sowjetische Presse ignorierten bisher den Bericht der Kommission.
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