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„Revolutionäre Reform“ in der DDR gefordert

■ Schriftstellerverband verabschiedet Resolution / Gestern demonstrierten wieder Tausende in Leipzig

Berlin (taz/dpa) - Der Druck auf die Partei- und Staatsspitze in der DDR wächst. KritikerInnen nennen erstmals Namen und konkretisieren ihre Forderungen, in der SED entwickelt sich der Spaltpilz. Auch die Kundgebungen der Opposition gehen weiter: Gestern abend demonsrierten wieder viele tausend Menschen in Leipzig. In zuvor abgehaltenen Friedensandachten war Bischof Hempels Hirtenbrief mit dem Aufruf zur Gewaltlosigkeit verlesen worden. Auch kursierten Flugblätter mit der Parole „Nicht demonstrieren“.

Von Auf- und Umbruch in ihrem Lande unbeeindruckt indes die Emigranten: Mehr als 1.800 Menschen trafen in Bayern ein, während in Warschau die erste Kleingruppe der 1.300 Botschaftsgäste ihre Ausreisepapiere erhielt.

Aus der Endloskette von kritischen Resolutionen ragt die Erklärung zahlreicher Theaterleute heraus. Sie verlangen eine öffentliche Untersuchung der Prügel- und Verhaftungswelle in Ost-Berlin am vergangenen Wochenende, Stellungnahmen der Minister für Inneres und Staatssicherheit sowie „Bestrafung der Verantwortlichen“. Bei dem Schauspielertreffen am Sonntag setzte auch einer der stellvertretenden Kulturminister, Siegfried Böttger, seine Unterschrift unter den Text.

Das Präsidium des DDR-Schriftstellerverbandes hat - nach windelweichen Vorstößen der Ostberliner Sektion vor zwei Wochen - eine „revolutionäre Reform“ gefordert und die „Ignoranz der Medien“ in der DDR als „unerträglich“ bezeichnet.

Das Präsidium hatte die Veröffentlichung dieser Entschließungen gefordert, die aber zunächst nur in der Zeitung der Liberal-Demokrati Fortsetzung auf Seite 2

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schen Partei, 'Der Morgen‘, gedruckt wurde. Und das, obgleich der selbsternannte Erfinder des Dialoges, Chefideologe Kurt Hager, gestern in Radio Moskau blubberte: „Wir müssen vieles ändern, was zum Beispiel Informationspolitik betrifft.“ Getreu dem Motto „Wir rühren an, wir kleistern zu“ warnte Hager dann davor, „in eine breite Diskussion über Fehler zu verfallen“.

„Ideologische, ökonomische und soziale Stagnationen gefährden zunehmend das bisher Erreichte“, betonte das Präsidium des Schriftstellerverbandes. „Der öffentliche demokratische Dialog auf allen gesellschaftlichen Ebenen über Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit, Mißwirtschaft und Bevormundung muß sofort beginnen.“ „Besorgte Haltungen und Äußerungen dürfen nicht unterdrückt und kriminalisiert werden.“ Einen Knicks vor der SED kann sich die schreibende Zunft nicht verkneifen. In dem Politbüropapier vom letzten Mittwoch

sieht sie „einen ersten Ansatzpunkt für notwendige Erneuerungen“ und will „an ihrer konsequenten Durchsetzung nach besten Kräften mitarbeiten“. An der Präsidiumssitzung des Schriftstellerverbandes nahmen neben Hermann Kant, der noch kürzlich einer ähnlichen Resolution des Berliner Bezirksverbandes seine Zustimmung verweigert hatte, unter anderem die renommierten DDR-Autoren und Dramatiker Volker Braun, Rainer Kerndl, John Erpenbeck, Günter Görlich und Rudi Strahl teil.

Auch die öffentlichen Protestaktionen reißen nicht ab: In der Ostberliner Erlöserkirche fand am Sonntag abend eine „Konzert gegen Gewalt“ mit mehreren tausend Teilnehmern statt, auf der prominente DDR-Unterhaltungskünstlern für Reformen eintraten.

In Halle sind am Sonntag Bürgervertreter mit dem Oberbürgermeister Eckhard Pratsch zusammengekommen. Aus Kirchenkreisen wurde berichtet, daß an dem Treffen 15 Vertreter der Stadt und 15 Vertreter einer Bürgerversammlung teilgenommen haben. Positive Ergebnisse gebe es bisher nicht. In Halle

hatte vor einer Woche eine stille Kundgebung für Reformen und gegen Gewalt stattgefunden, bei der die Polizei zum Teil mit großer Gewalt gegen die Menschenmenge vorgegangen sein soll.

In Plauen, einer Kleinstadt an der Grenze zwischen DDR und Tschechoslowakei, sollen am Sonntag nachmittag bis zu 20.000 Menschen für Reformen und demokratische Ermeuerung demonstriert haben. Die friedliche Kundgebung in der Innenstadt soll auch in einem Flugblatt verschiedener nichtstaatlicher Gruppierungen angeregt worden sein.

Der Vorsitzende des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB, Harry Tisch, der vor kurzem bei einem Besuch in der Bundesrepublik noch jedes kritische Wort über die Zustände in der DDR vermieden hatte und Kritikern über den Mund gefahren war, erklärte jetzt in einem Interview mit der FDJ-Zeitung 'Junge Welt‘, „daß das Klima gegenwärtig sehr angespannt ist, es ist ein anderes geworden. Die Stimmung unter den Kollegen hat sich verändert. Darauf müssen wir reagieren. Wenn wir das nicht tun, machen es andere.“ Zu

gleich betonte Tisch, die DDR brauche keine neuen „Formen und Foren der Demokratie“.

Ebenfalls in der 'Jungen Welt‘ wurde der 86jährige Altkommunist Bernhard Quandt, Mitglied des ZK der SED, interviewt. Auf die Frage, warum „so viele junge Menschen weglaufen“, erklärte er: „Weil sich diese elende Selbstzufriedenheit überall breitgemacht hat. Weil oft glattgemacht wurde, was holprig ist. Und weil wir Begriffe wie Freiheit und Demokratie den Westmedien überlassen haben, während unsere Medien den Menschen einschläferten.“

Die 'Bild'-Zeitung, derzufolge Honecker erst das Zeitliche gesegnet, Wochen später seinen letzten Arbeitstag hatte, meldet heute, daß die Mehrheit der 15 SED-Bezirkssekretäre seinen Rücktritt will.

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