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O LORD, GIVE MERCY

■ John Cale im Quartier Latin

Alte Helden und vor allem schon jede Menge scheintoter Dinosaurier und Fossilien wurden uns dieses Jahr reichlich wiedergeschenkt. Aus welchen Grüften sie auch krochen, so lebendig, wie John Cale in den Jahren seit dem Velvet -Underground-Ausstieg war, könnten die Stones oder Paul McCartney selbst mit Blutwäschen nicht mehr werden. Auf jeder Platte drückte er einem neuen Gebiet seinen Stempel auf. Von Punk bis zu Klassik (von der er eigentlich kommt) ließ er nur wenig aus, und bei seinen Konzerten konnte man nie vorher wissen, ob er allein am Klavier auftauchen oder mit einer Zombieband aus lauter Ziggy-Köpfen dieselben Songs im Stakkato zerfetzen würde.

Diesmal ist er allein, mit sanften, trockenen Pianotönen und einer warmen, aber immer schneidenden Stimme: Fettige Haare kitzeln in meiner Nase bei jedem Versuch, einen Blick auf Mr. Cales etwas zu lang geratene Locke zu erhaschen, die so wunderbar mit den ausrasierten Schläfen kontrastiert. Hier kann man absolut nichts sehen, denn glückliche Besitzer von Bankplätzen nutzen diese, indem sie sich draufstellen und so den vom Schicksal in den Gang verschlagenen Rest vollständig die Sicht verstellen. (Da wäre zweierlei zu beklagen: Erstens die Unverschämtheit und Geldgier der Konzertveranstalter, das Quartier bis zum Rand auszuverkaufen, anstatt zwei Konzerte zu veranstalten, und zweitens die Rücksichtslosigkeit des Publikums, was das Stehen auf den Bänken angeht, so das die hinten und in den Gängen Stehenden nun garantiert nichts mehr sehen können. d.säzzer) Trotzdem starren alle fasziniert Richtung Bühne, als fände dort die Auferstehung Jesu statt und der Heilige Geist wäre zu fühlen.

Zusätzliche Erschwernis, den Ergüssen des Meisters zu folgen, ist die geringe Lautstärke. Einzig Gesang und Gitarre oder Piano, und trotzdem hat der Mixer noch Probleme. Wird das Pianospiel zu minimalistisch, dringt ein fieses Fiepen ans Ohr, ganz zu schweigen von den blöden Kommentaren Umstehender, die einem sonst entgehen: „Ich hab‘ ja alle Platten. Also da spielt er ja meistens Klavier.“

Jeder fallende Bierbecher ist zu hören, aber trotzdem ist, wenn man die Augen nur fest genug schließt, Heartbreak Hotel wieder der verzweifelte Aufschrei, der dieses Lied in Bruder Cales Version immer war: „I'm so lonely, I could die.“ Einsamkeit und Verzweiflung fällt auf jeden, man vergißt, daß man ihn nicht sieht, denn da ist immer noch diese Stimme, die einen umfängt, einem die Zerissenheit von Cale und die eigene beweist und einen entläßt, desillusioniert, reingewaschen und einsam unter Tausend anderen.

Thomas Winkler

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