„Nothing to be gained here“

■ Zum dritten Mal nach „New York Now“ und einer Einzelausstellung widmet sich die Kestner-Gesellschaft Hannover dem amerikanischen Künstler Jean Michel Basquiat

Unlängst fiel John Simon, einem amerikanischen Journalisten, in der Internationalen Gastkolumne der 'FAZ‘ auf, daß am Anfang der Kunstgeschichte das Werk des „unbekannten Künstlers“ stand, an ihrem Ende dagegen stehe in der Regel das Werk „Ohne Titel“. Er folgert daraus unter anderem: „Am Anfang war das Kunstwerk alles und der Künstler nichts, am Ende wird nur noch der Name des Künstlers ausposaunt, und das Kunstwerk ist Nebensache.“

Simon schreibt über Richard Serra, aber das könnte auch auf Jean Michel Basquiat gemünzt sein, dessen spektakuläre Karriere - anarchistisches Leben und früher Tod - oft genug in den Feuilletonseiten die Bedeutung seines Werkes verdrängte. Simon weist auf ein wichtiges Phänomen des aktuellen Kulturbetriebs hin. Der Markt schafft und braucht Künstlerlegenden. Legenden sind kommensurabel und leicht begreifbar, Kunstwerke oft genug hermetisch und schwierig.

Legenden lassen sich gut verkaufen. Die Legendenbildung hat auch im Fall Jean Michel Basquiats dazu beigetragen, den Markt für sein Werk zu öffnen. Seine Bilder und Zeichnungen erreichten fabulöse Preise und sie stiegen noch steiler, als der 28jährige 1988 in New York starb.

Basquiat, dessen Mutter aus Puerto Rico und dessen Vater aus Haiti stammt, wurde oft genug als „underdog“ verkauft, als Farbiger aus den Slums von New York; ein Junge, der sich mit eisernem Willen nach oben boxte, der mit von „King Samo“ signierten Graffiti auf sich aufmerksam machte, der Einlaß in die Factory von Andy Warhol fand, die internationale Kunstszene eroberte und den der Erfolg schließlich umbrachte. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Basquiats Vater war gut verdienender Steuerberater in Brooklyn, der Mercedes stand vor der Tür; Jean Michel wuchs wohlbehütet auf und wurde bildungsbürgerlich erzogen.

Basquiat war nicht der Typus des ungeschliffenen Wilden, der sich aus dem Elend hochkämpfte an die Tische der Reichen und Arrivierten. Als solcher hätte er wohl mehr Sicherheitsventile zu bedienen gewußt. Der rücksichtslose Umgang mit sich selbst ähnelt schon eher dem der bürgerlichen Dichter- und Malerdekadents des 19.Jahrhunderts, Baudelaire, Rimbaud, Apollinaire und De Quincey. Die Drogen, die ihn am Ende ums Leben brachten, waren für ihn nicht der kompensatorische Königsweg des Ausgepowerten, sondern wohl eher die „künstlichen Paradiese“ des erlebnishungrigen Experimentators.

Basquiats Bilder und Zeichnungen parieren die Stöße und Schocks der New Yorker Boulevards in diesem Jahrhundert. In ihnen finden sich die Wolkenkratzer Manhattans und die Figuren Walt Disneys, die Schlagzeugsoli Max Roachs wie die nervösen Synkopen Charlie Parkers, das dumpfe TamTam afrikanischer Trommeln und die bedrohlichen Masken und Rituale des Voodoo-Kults. Die kleinformatigen, krickeligen Kürzel, Schriftzeichen und Bildmotive des zeichnerischen Werkes, das die hannoversche Kestner-Gesellschaft jetzt in einer Retrospektive versammelt, bevor es sich durch Ankäufe „in alle Welt zerstreuen“ wird (Dr.Haenlein), erinnern an die Handschrift eines Zehnjährigen. Nur ist das gewollt, beabsichtigt, kalkuliert.

Das Kalkül trennt das Kind vom Künstler. „Ein Kind mit Zeichenblock und Malstiften ist potentiell eine Sixtinische Kapelle“, schreibt Gertrude Stein in einer biografischen Notiz. Aber eben nur potentiell. In Wirklichkeit hat uns noch keiner diese frühkindlichen Genies gezeigt.

Basquiats Primitivismus ist von höchster Raffinesse. Seine motivischen Assemblagen haben nichts Zufälliges, sie erzählen Geschichten, serigrafieren und verweben Themen und Motive. Auf einer Zeichnung (Ohne Titel) finden sich anatomische Skizzen und Reihungen medizinischer Termini, die Komposition von Flußverzweigungen und die Aufzählung großer amerikanischer Ströme. Hinweise auf das Telefonsystem der USA, eine Straßenskizze und der Schriftzug eines Ave Maria stehen neben einem totemistischen Pfahl und einer afrikanischen Maske.

Diese „facts“, wie Basquiat seine Sujets nannte, verbinden und verdichten sich zu einer stimmigen Inszenierung von Idee und Geschichte der Kommunikation quer durch die Jahrhunderte und durch die Geographie von Landschaften, Körpern und Techniken. Basquiats Bilder sind wie Schaltpläne, durch die elektrische Impulse zum Betrachter rasen. „I want to turn you on.“ Im Zentrum seiner letzten Zeichnung findet sich unter einem leeren Kreis das Notat: „Nothing to be gained here.“ So spricht jemand, der am Ende einer Reise ist.

Michael Stoeber

Kestner-Gesellschaft Hannover, noch bis zum 14.November 1989, täglich von 10 bis 18 Uhr, außer montags, freitags von 10 bis 21 Uhr. Der Katalog kostet 42 Mark