: Wo bleibt die Partei?
Massendemonstrationen als Antwort auf die zögerliche Haltung der DDR-Staatsführung ■ K O M M E N T A R E
Von Woche zu Woche schwellen die Demonstrationen in der DDR weiter an. Am Montag gingen allein in Leipzig mehr als Hunderttausend auf die Straße. Das schaffte bisher nur die Partei am 1.Mai. Das 'Neue Deutschland‘ leitartikelte dementsprechend richtig: „Überall im Lande ist die Diskussion im Gang.“ Nur ist es nicht die Diskussion, die der Partei vor Augen schwebte, als sie letzte Woche durch die unerwartete Politbüroerklärung die Flucht nach vorne antrat, um den Status quo zu retten.
Die auffällige Dichotomie der Erklärung - dumpfe Töne neben zarten Frühlingsfarben, die das Zentralorgan der FDJ graphisch noch hervorzuheben glaubte - offenbarte zwar zum ersten Mal Interessendivergenzen auch innerhalb der höheren Führungsebene der Partei. Doch in ihrer strategischen Intention werden sich beide Seiten einig gewesen sein: Ein Ventil zu schaffen, um zu beschwichtigen und die Diskussion auf jenem Terrain zu führen, wo die SED Heimvorteil genießt. Der Marschplan sah vor, wankelmütige Genossen noch einmal auf Linie zu bringen, der Kirche als einzig legitimer Organisation ein Gesprächsangebot zu unterbreiten, um so die Händel innerhalb der Opposition anzufachen und nicht zuletzt damit die Exponenten der Opposition weiter im gesellschaftlichen Abseits zu halten.
Diese Strategie ist auf der ganzen Linie gescheitert. Die Kanalisierung des Protestes ist ihr mißlungen. Mit jedem weiteren halbherzigen Vorstoß treibt sie immer mehr auf die Straße, die mit der Parole antworten „Reformen a la Hager sind uns zu mager“. Dafür sind Leipzig, Dresden, Magdeburg und Plauen der Beweis.
Selbst die jahrzehntelang zahmen Blockparteien der Nationalen Front wollen nun erwachsen werden. So manchem alten Genossen wird da die jüngste Entwicklung Polens drohend im Nacken sitzen, wo es die jahrelang Verbündeten waren, die den Dolch führten. Und selbst die relative Zurückhaltung der Ordnungskräfte auf der Demonstration in Leipzig? Eine bewußte Deeskalierungsstrategie oder Verunsicherung über die Stimmungslage im felsenfest geglaubten Sicherheitsapparat? Wir wissen es nicht, können es aber erahnen.
Und was soll man davon halten, wenn Berufsjugendlicher Eberhard Aurich in der Ostberliner Erlöserkirche inmitten von tausenden Demonstranten dem Aufruf zur Gründung eines autonomen Studentenverbandes lauscht. Jene Studenten, die er dank dem Bildungssystem der DDR für so standfest gehalten hat. Es wird ihm in den Ohren dröhnen. Und dennoch hat er wohl das Vakuum erkannt, das die SED zu verschlingen droht. Jetzt gilt es nur noch, zu retten, was zu retten ist, bevor alle Bastionen zu bröckeln beginnen.
Die Dimension der Demonstrationen spiegelt das Maß der Demütigung wider, die selbst sozialismusfreundliche Kräfte in der DDR erfahren haben; und nicht weniger das Ausmaß an freiwilliger Selbstunterwerfung, die die DDR-Bürger über Jahrzehnte geübt haben. Was jetzt aufbricht, weist auf eine sozialpsychologische Dynamik, die die Partei mit ihren Strukturen und Antworten nicht mehr dämmen kann. Es bleibt ihr keine Wahl, denn das Zepter hat sie schon längst aus der Hand gelegt.
Klaus-Helge Donath
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