: Das „Neue Denken“ oder die 5. Internationale
Willy Brandt und die Missionare des „Pluralismus“ in Moskau / Sozialistische Internationale viel umworben / Russische Sozialdemokraten fordern materielle Unterstützung / Der Deutschlandpolitiker Brandt vermeidet Ratschläge für Ost-Berlin ■ Aus Moskau Klaus Hartung
Als „Lateiner“ ist Willy Brandt in Moskau gescheitert. Aber das lag weniger an den Lateinkenntnissen, denn an dem fast schon provozierenden Selbstbewußtsein der Sozialdemokraten auf dieser Reise. Brandt hatte bei seiner kurzen Danksagung zur Verleihung der Ehrendoktorwürde im Hauptturm der Lomonossov-Universität sich auf seine Rede im Audimax bezogen. In ihr zitierte er - mit dem koketten Hinweis, auch ein Sozialdemokrat dürfe sich wohl auf den Klassiker beziehen - den Satz von Marx: Die Menschen seien „nicht Eigentümer der Erde“, sondern müssen sie als „doni patres familias“ verwalten. Er habe Marx korrigiert, es müsse „patres familiae“ heißen. „Insofern bin ich Revisionist.“ Nur hatte Brandt nicht recht. Es heißt „patres familias“. Eine Anekdote am Rande, aber sie zeigt, wie salopp die SPD -Gruppe mit heiligen alten Hüten umging.
Brandt erklärte gegenüber den fragenden Studenten, daß es im Grunde genauso unsinnig sei, vom Marxismus zu reden, wie wenn Physiker „vom Newtonismus reden“ würden. Bahr hatte kurz zuvor die Ökonomen und Gesellschaftswissenschaftler des „Arbeitskreises zum Studium der internationalen Sozialdemokratie“, ein Verein, der dem ZK angegliedert ist, kurzerhand beschieden, daß alle ideologischen Fragen überholt seien. Dieses zweistündige Treffen im Hotel „Oktjabrskaja“ war das deutlichste Zeichen dafür, daß Brandt nicht nur als Deutschlandpolitiker, als Überbringer einer Botschaft der Bundesregierung, sondern vor allem auch als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale empfangen wurde.
Gorbatschow nahm beim Beginn des Gespräches mit Brandt den Ball sofort auf. Es sei schönes Wetter hier, meinte der Ehrenvorsitzende. Und Gorbatschow sofort: „Ja, die Sonne scheint auch über den Beziehungen zur Sozialistischen Internationale.“ Auch Brandts Rede benannte das Programm der Sozialistischen Internationale (SI) für die nächste Zeit: Vor allem die Verbindung der Nord-Süd-Kooperation mit einer neuen Ost-West-Politik.
Aber in Moskau waren noch andere Hoffnungen im Spiel: Die der historischen Versöhnung der seit 1914 gespaltenen Arbeiterbewegung. Auf der Tagung im „Oktjabrskaja“ ging in Brandt anfangs darauf ein. Er zitierte den ungarischen Politiker Kadar, der ihn 1978 gefragt habe, „ob wir nicht aufhören können mit dem Krieg, der 1914 begonnen hat.“ Doch die Vertreter des „Arbeitskreises“ wollten mehr. Sie fragten nach dem zukünftigen Begriff des Sozialismus und einer ideologischen Vereinigung. Und erwarteten nun auch ihrerseits eine selbstkritische Haltung der Sozialdemokratie zur Geschichte. Brandt hatte es leicht, abzublocken. Die Essens der Sozialdemokratie sei der „Pluralismus“. Seine Zurückhaltung zur Frage der Beziehung von SI und KPdSU formulierte er deutlich: „Wir sind nicht die, die sich verfrüht zu Worte melden... Wir vermeiden peinlichst jede Einmischung.“ Allerdings gebe es doch bald eine grundsätzliche Auseinandersetzung. Der Generalsekretär und er seien zu einem Grundsatzartikel in einer Theoriezeitschrift der spanischen Sozialisten eingeladen. „Ich werde bei meinem Gespräch Gorbatschow daran erinnern, und ihm sagen, daß ich meinen Artikel schon fertig habe.“
Daß Einmischung peinlichst vermieden werden soll, bezog Brandt vor allem auf sozialdemokratische Gruppierungen. Natürlich gab es doch Kontakte. Am Sonntag sprach Koschnick mit Sozialdemokraten aus Riga, am Montag trafen sich und Gerhard Schröder mit Moskauer Sozialdemokraten. Daß die SPD keine Konspiration betreibe, hing überdeutlich im Raum. Das bremste aber die Moskauer, Professoren, Juristen, Studenten und Journalisten keineswegs, sich bitter über ihr Verlassensein von der SI und insbesondere von der SPD zu benennen. Da alle westlichen Sozialdemokraten auf die SPD blicken, sei die Zurückhaltung der Partei besonders schlimm.
Sie seien keine „marginalen Extremisten“, sie wollten auch nicht, wie unterstellt, die Situation destabilisieren. Beziehungen, Zeitungsaustausch und technische Unterstützung forderten sie: „Warum kann uns die Friedrich-Ebert-Stiftung nicht einmal einen Computer geben? Wir sind nackt, uns fehlen die einfachsten Mittel“. „Die Friedrich-Ebert -Stiftung macht in Moskau den Eindruck, sie sei der Präsentant der kommunistischen Internationale.“ Daß an einen Computer nicht zu denken sei, stellte Koschnick sogleich dar: Dieses Risiko könne man für die Genossen in Moskau nicht auf sich nehmen. Informationsaustausch wurde dagegen versprochen. Auch die Einladung an Willy Brandt zum Gründungskongress der SdA (Sozialdemokratische Assoziation) im Januar in Tallinn wurde weitergereicht.
Auch als Deutschlandpolitiker wurde Brandt hier ganz unmittelbar angesprochen. In dem säulenumstandenen Audimax der Universität waren sehr viele DDR-StudentInnen anwesend. Auf die Frage nach den Flüchtlingen meinte Brandt: Er habe mit großem Interesse bemerkt, wieviele dableiben wollen“. Riesenbeifall. „Was er denn an Honeckers Stelle tun würde“? „Abgesehen davon, daß ich es unter Umständen wüßte, wäre es eine grobe Unhöflichkeit von Moskau aus den Ostberlinern zu sagen, was sie tun sollen.“ - Vielleicht ein überflüssige Höflichkeit. Die Botschaft der grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen Brandt und Gorbatschow in Fragen der DDR wird Ost-Berlin schon noch erreichen.
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