: Leipzig: Wir demonstrieren weiter
Die Kegel der Gebäudestrahler tauchen die Arkaden des alten Rathauses in gelbes Licht, aus dem ersten Stock dröhnen Lautsprecher mit der Botschaft des Staates: Nicht demonstrieren! Da wiegelt auf einem Endlosband ein Bezirkssekretär der SED ab („Viele von Ihnen haben den Dialog angenommen“), da weiß der örtliche Vorsitzende der Liberal-Demokratischen „Blockpartei“ Dr.Brendel, daß es „immer noch mehr Fragen als Antworten gibt“, die Diskussion darüber könne „an jedem Ort und zu jeder Stunde stattfinden, aber bitte nicht auf der Straße“. Auch einen evangelischen Pfarrer namens Weiß hat man aufgetrieben, der aus der Bergpredigt „Selig sind die Friedfertigen“ vorliest und sich sorgt, „daß die Vernunft auf der Strecke bleibt“. Doch die Botschaft erreicht niemanden, denn der riesige Marktplatz in der Mitte der Leipziger Altstadt ist leergefegt. Der Staat regiert an diesem Abend gerade noch diesen zentralen Punkt, derweil sein Volk längst die ganze Peripherie okkupiert hat.
Die Peripherie, das ist der Ring breiter Alleen, der die Altstadt umfaßt. Und daß die vielleicht Hunderttausend, die ihn mit ihren Transparenten und Sprechchören umkreisen, das Volk sind - Leipzig hat rund 400.000 Einwohner - bestreitet an diesem Abend nicht einmal mehr der staatliche „Sender Leipzig“, der seinen HörerInnen zum ersten Mal einen Demo -Live-Report liefert und dabei sogar diejenige Parole nicht verschweigt, die die Partei zum Tabu erhoben hat: „Neues -Forum-zu-lassen!“
Aber um 19 Uhr - Ordnung muß sein - ist wie immer Sendeschluß beim Lokalradio , der Reporter verabschiedet sich vom vollgestopften Karl-Marx-Platz und ist danach noch mit seiner Nachricht ans Funkhaus zu hören, die wohl nicht für die Hörer bestimmt war: „Wir versuchen jetzt, heil aus der Stadt zu kommen.“ Da hätte er keine Angst zu haben brauchen. Die Massen, die sich jetzt in Richtung Hauptbahnhof in Bewegung setzen, sind nämlich so friedfertig wie Jesus höchstselbst. Fäuste werden nicht gereckt, höchstens einmal die zum Victory-Zeichen gespreizten Finger, dann wenn die Menge skandiert: „Visafrei -Tschechoslowakei“, „Gorbi-Gorbi“, „Freie Wahlen“ und immer wieder „Schließt euch an“. Die wenigen, die sich nicht anschließen, machen aber auch eher einen unbeteiligten Eindruck: Unbewehrte Volkspolizisten stehen am Rand, nie mehr und nie weniger als zwei. Heute kommt vielleicht ein Uniformierter auf tausend Demonstranten.
Mit Helmen und Schilden abgesichert ist einzig der Komplex von Stasigebäude und Kaserne der Bereitschaftspolizei. Aber auch hier wagt sich nur ein sternhagelvolles älteres Pärchen in die Nähe der regungslosen Grünen. Es wird sofort von einer Mitdemonstrantin mit beruhigenden Worten („Wir wollen doch hier friedlich sein“) und sanftem Druck weitergeschoben.
Nichts ist zu sehen von den Armeeinheiten, Wasserwerfern und Betriebskampfgruppen, die vor einer Woche hier aufgefahren waren. Nicht einmal Absperrungen gibt es, das Volk hat sich die Straße genommen, und Polizisten in weißen Mänteln halten, ganz ohne Blaulichthektik, die Trabis und Straßenbahnen auf, die über den Ring wollen.
„Wenn Sie morgen früh hier einmal rumgehen, dann werden Sie sehen, daß es nicht eine kaputte Fensterscheibe gibt.“ Der 57jährige Arbeiter aus einer Gummifabrik ist stolz auf diese Demonstration „der Bürger“. „In den Betrieben haben die diesmal gar nicht mehr versucht, die Leute vom Demonstrieren abzubringen. Das hätte einfach keinen Sinn gehabt. Und diese Flugblätter, die sie heute abend haben verteilen lassen, sind doch nur noch lächerlich.“ Schwafelnde Aufrufe, nicht auf die Straße zu gehen und auf den staatlich organisierten Dialog zu warten - unterzeichnet vom Rektor der Universität und einem Medizinprofessor.
Jeder und jede weiß, daß es nicht mehr so weitergehen kann, deshalb sind sie hier. Der Arbeiter, der sich angesichts des Exodus junger Leute fragt, „wer in sieben Jahren meine Rente bezahlen soll“, genauso wie die Fachschulstudentin, die mit ihren Kommilitonen aus Gera gekommen ist, nachdem der Visazwang für die CSSR „das Faß zum Überlaufen gebracht hat“, oder der Freak aus der Hauptstadt, der darauf wartet, „daß das bei uns auch so groß losgeht“.
Und diesmal beweisen die zahlreichen Transparente und Protestschilder, daß viele kein Problem mehr haben, auch mit ihren Gesichtern vor den Stasikameras für die Parolen geradezustehen. „Wahlsystem reformieren“ „Publikationsfreiheit“ - „Seit sieben Tagen Bla-Bla - Wo bleiben die Dialogergebnisse?“ oder auch in gereimter Form an den SED-Chefideologen gerichtet: „Reformen a la Hager sind uns zu mager.“
Wenn der bislang halbherzige Dialog in dieser Woche keine Ergebnisse bringt, wird es kommenden Montag wieder losgehen. „Wir sollten“, fällt einer Mittfünfzigerin beim Balancieren zwischen den Straßenbahngeleisen ein, „montags jetzt immer das Abendessen vorverlegen. Dann kommt der Abendspaziergang, und dabei tun wir auch noch was fürs Volk.“
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