Nicht die Avantgarde

■ Das sowjetische Fernsehen präsentierte sich im ZDF / Keine innovativen Fernsehimpulse

Der Russ‘ kommt zu Besuch. Einen ganzen ZDF-Fernsehabend lang, so jedenfalls war es versprochen. Aber aus aktuellem Anlaß - und was ist aktueller als ein Hinspiel in der zweiten Runde im Fußball Europapokal der Pokalsieger - gab es eine Zäsur. Von 22.10 bis 22.50 Uhr hieß es Dortmund gegen Genua. Glasnost hin, Perestoika her. Wenn Dortmunds Zebra-Stutzen das Leder treten, schlägt die Stunde eines Dieter Kürten. Und Jury Petrow, der eigens aus der Sowjetunion eingeflogene Moderator, hat erstmals das Nachsehen.

Zum Programm: Als Eröffnungsnummer denkbar ungeeignet, das trübe Kulturfeature: Leningrad und Moskau - die Hauptstädte Russlands. Unablässig wurden da Stiche vom alten Petersburg geschwenkt und vermeintlich Wissenswertes darüber kommentiert.

Allerlei Bekanntes präsentierte auch das Fernsehspiel Ein Flamingo bringt Glück, den das estnische Fernsehen beisteuerte. In der Oberschichtfamilie kriselt es. Die Mutter, so deutet es der Film an, geht fremd mit ihrem Vorgesetzten, und Vatern hätl sich an die Klassenlehrerin des Sohnes. Die maroden Verhältnisse im Elternhaus treiben den Sprößling geradewegs in die Arme einer Jugendbande, die im Übermut einen Mann ermordet. Von der Geschichte erinnert das an die Jugendrebellen im amerikanischen Kino der fünfziger Jahre, doch immer wenn die Schauspieler schweigen und der Film nur mit Bildern von den grauen Trabantenstädten, den Punks in den Straßen und den Schlangen vor den Geschäften erzählt, ist vom desolaten gesellschaftlichen Klima des Landes etwas zu spüren. Aber mit derlei tut sich das sowjetische Fernsehen bis jetzt noch schwer. So die These von Joachim Holtz, der mit seiner Reportage Wie sich die Bilder ändern das staatliche Fernsehen unter die Lupe nahm. Blick heißt ein Jugendmagazin, das sich als Arena des Pluralismus versteht. Da wettert ein Redner gegen die Dauerstellung von Lenins Leichnam. Er fordert baldige Beisetzung der Mumie und verursacht damit einen Eklat. Der verantwortliche Fernsehminister mußte den Hut nehmen. Doch auch die Freiheit des Blick hat Grenzen. Vor der Ausstrahlung muß jede Ausgabe in die Zensur. Da kann es passieren, daß eine Sendung um die Hälfte zusammengeschnitten werden muß, stellen die Redakteure lakonisch fest. Die Probleme ethnischer Minderheiten stehen ganz oben auf der Liste, wenn Holtz nach Tabus im sowjetischen Fernsehen fragt. Im Kommentar wird kurzerhand ein Versagen des Staatsfernsehen diagnostiziert. Auch wenn sich die Reportage mühte, in die tieferen Problemzonen der ethnischen Konflikte und der damit verbundenen Autonomiebestrebungen konnte sie nicht vorstoßen. Dafür freilich sind 40 Minuten auch zu kurz bemessen. Das Fazit des ZDF-Moskau-Korrespondenten: Die Avantgarde der Perestroika sind die Kollegen des Staatsfernsehen noch nicht geworden, aber es bewegt sich was in die richtige Richtung.

Als „ein herausragendes Beispiel“ der sowjetischen Kinos aus der „Glasnost und Perestroika-Periode“ wurde Der kalte Sommer von '53 angekündigt. Richtig ist, daß 1987 ein Film entstanden ist, der auf realen historischen Ereignissen basiert: Innen- und Sicherheitsminister Berija hatte nach Stalins Tod im März 1953 eine Amnestie für Kriminelle erlassen. Sinn und Zweck dieses Erlasses sind bis heute ungeklärt. Wer aber als Zuschauer um diesen historische Grundstock nicht weiß, dem stellt sich Der kalte Sommer als blutiger Aktionsfilm dar. Ein Erzählmuster, auch nicht eben neu und der Film mitnichten ein Exponat atemberaubender Filmkultur wie beispielsweise Askoldows Die Kommissarin oder Klimows Abschied von Matjora. Die Filmschaffenden der Sowjetunion müssen ernst lernen, mit der gewonnenen Freiheit umzugehen, erklärte Klimow, Erster Sekretär des Verbandes der Filmschaffenden der UdSSR auf der Berlinale 1987.

Nach Mitternacht dann der letzte Beitrag des Abends: Vernissage. Ein viertelstündiger kommentarloser Kameraspaziergang durch den Arbat, dem Mosakuer Stadtviertel, in dem einst Puschkin, Gogol und Lermantow lebten. Und heute: Ein Händler, der Vampirzähne feilbietet und im Hintergrund ein Plakat von Heavy-Metal-Guru Uzzy Osborne. Auch das ist Perstroika.

255 Minuten Sowjetunion im ZDF haben das Bild einer Gesellschaft im Wandel, im Aufbruch gezeichnet. Die Formen der Fernsehgenres sind mittlerweile den unseren zum Verwechseln ähnlich. Wer sich da innovative Fernsehimpulse erhofft hatte, wurde enttäuscht.

Friedrich Frey