: DIE WAHRHEIT
■ Senatsrockwettbewerb '89 und wie es dieses Jahr dazu kam
September 1989. Das Ziel heißt Großdenkte bei Wölfenbüttel. Mit 13 JurorInnen (zehn W, drei M) vier Tage Gruppenhaft im Heim Freundschaft, 296 Kassetten bzw. Interpreten im Gepäck. Gleich am ersten Abend pessimistisches Murren aus der Veteranen-Ecke, weil rund 50 Tapes mehr als im letzten Jahr, aber in der gleichen Zeit zu bewerten sind. Doch einige, z.B. ich, geben sich, in völliger Unwissenheit über die hereinbrechenden Ereignisse, noch naiv engagiert. Sandy Hobbs, Kassettenverwalter und beim Senat angestellt, teilt Ordner mit numerierten Feldern aus, für persönliche Notizen. Das Bewertungsprinzip geht so: Sandy H. schmeißt ein Tape ein, spielt das erste Stück, nennt eine Nummer, keinen Namen. Jury, im Halbkreis nach Sympathie- und Solidaritätsfraktionen geordnet sowie mit Drinks und Snacks ausgerüstet, hört Geräusche. Wer genug gehört hat, hebt die Hand. Nach mehreren Händen spult Senats-Sandy weiter zum zweiten Stück, danach Entscheidung für die zweite Runde (in der das Band intensiver abgehört werden soll) oder nicht. In ganz kritischen Fällen wird auch noch der dritte Song angespielt. Bis zur fünfzigsten Kassette gibt man sich kritisch, diszipliniert-interessiert. (Groß-)Zügig wird in die zweite Runde gewählt, was nach Speedpunk, Lou Reed, Morissey, Ethno, 60ies-Beat und -Pop klingt.
Während ich noch auf die innovative Berliner Band warte, hat Jingo-de-Lunch-Sängerin Yvonne schon die vierte Speed oder Skate- oder Hardcore-Metall-Band in die zweite Runde gebracht, daneben macht sich Sibylle Schmidt (Blockschock) wegen ihrer Ska- und Rock-a-billy-Leidenschaft bei den übrigen Szene-Kennern unbeliebt. Nach ungefähr vier Stunden reißen die ersten Nerven. (Cafe Swing-)Doro, echt aggressiv, will keine zweiten Stücke mehr hören, pem (Morgenpost) bringt sich ein: „Wartet doch wenigstens mal, bis der zu singen angefangen hat“, und Irmgard Schmitz vom Loft sowie Monika Döring lassen präventiv die Hände oben. Wir schaffen es am ersten Tag bis Kassette Nummer 84.
Bereits am zweiten Tag steuert die Stimmung hart auf Resignation zu. Drei wichtige Kriterien für die zweite Runde bestimmen den weiteren Bewertungsablauf dieses Tages: 1. Hat was; 2. Es gibt Schlimmeres; 3. Niemand ist vollkommen. Das Bilderzeigen und blöde Texte laut Vorlesen nicht zu vergessen. Beneidenswerterweise kann sich K.D. Schacht (tip) durch ein Magenleiden von seinen Pflichten und der Jury befreien. Monika Döring hält sich mit Sekt bereits nach dem Frühstück wach, während Petra Hammerer (Ecstasy) sich mit Bettgarnitur in zwei Couchsesseln einnistet. Ernsthaft bedrängt scheint nur der gerade der Pubertät entronnene Olav Bruhns (Rasca Cocous) von Sylvia Fukking (Vielklang Label) und Eva Schütte (SFB) mit Blicken und Worten. Irgendwie sind dabei um die 70 Gruppen in die Endrunde gekommen.
Die definitiven 21 Gruppen zu ermitteln, ist dann am dritten und letzten Tag nur noch ein Klacks. Alles, was nicht halbwegs nach Szene-Band klingt, kommt sowieso nicht rein. Aber fürs nächste Mal weiß ich ja, worum es geht.
Connie Kolb
Apropos: Heute spielen The Red Soul, Disaster Area und Rancid Crowd im Quatier Latin. Musikrichtung: extrem laut, heftig, grell-brutal, schnell, schneller, am schnellsten. Es wird empfohlen, Ohr-, Arm- und Knieschützer mitzubringen.
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