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Von der Aufteilung der Welt

■ Eric J. Hobsbawms „Das imperiale Zeitalter 1875-1914“

Dieses Buch ist ein Paukenschlag. Es kommt aber ganz leise daher. Von Anfang bis Ende wendet sich Hobsbawm quasi im Plauderton „an alle, die ein Interesse daran haben, die Welt zu verstehen“. Der Kraft seiner Argumente vertrauend, hält er es nicht für erforderlich, ihre Abweichung von zeitgenössischen Trends in der Geschichtsschreibung hervorzuheben oder gar zu begründen. Wer meint, Hobsbawm seien diese Trends entgangen, irrt. Dies ist nicht die Arbeit eines Autors, der an traditionellen Mustern der Geschichte der Industriegesellschaft, der Arbeiterbewegung sowie insgesamt der Klassenanalyse festgehalten hätte, ohne rechts und links zu schauen. In Nebensätzen gibt Hobsbawm zu erkennen, daß ihn die Diskussion um die Fortdauer des wirtschaftlichen und vor allem politischen Einflusses der alten Eliten, die derzeit vor allem in der Historiographie zu Großbritannien ein zentrales Thema ist, ebensowohl geläufig ist wie die Kritik an der vorschnellen Identifizierung einer Geschichte der Arbeiterorganisationen mit derjenigen der Arbeiterschaft. Er verteidigt seine Sichtweise nicht gegen Kollegen, die das Ende des Ancien Regimes erst 1918 gekommen sehen wollen oder die der Auffassung sind, die Unterschiede regionaler und lokaler Entwicklungen seien so groß, daß sich Verallgemeinerungen auf nationaler Ebene, geschweige denn auf der Ebene der „entwickelten“ Staaten oder der Welt verböten.

Die Lektüre dieses Buches vermittelt den Eindruck, da habe sich einer der großen alten Männer der Geschichtsforschung (Hobsbawm ist 74) zurückgelehnt, um die früheren und die jüngsten Revisionen der Interpretation des 19.Jahrhunderts als demjenigen einer „Blütezeit des Kapitals“ und des Bürgertums, die beide im Imperialismus ihrem Höhepunkt und ihrer ersten großen Krise zustrebten, vor dem Hintergrund seiner langen Forschungspraxis Revue passieren zu lassen. Dann habe er sich aufgesetzt, zweimal tief Luft geholt und sich daran gemacht, „den historischen Laien“ und nebenbei auch noch den Kolleginnen und Kollegen von der Zunft mitzuteilen, wie sich die Welt in den Jahren von 1875 bis 1914 veränderte. Das hatte etwas von jugendlichem Übermut. Oder wie anders soll man das nennen, wenn die Quintessenz einer Epoche in einem knappen Dutzend von Strukturmerkmalen zusammengefaßt wird: in der Globalisierung des Kapitalismus, der Aufteilung der Welt, der weltweiten Durchsetzung bestimmter Normvorstellungen für politische Verfassungen, der Entstehung von Arbeiterorganisationen, der Herausbildung des (neuen) Nationalismus, den Anfängen der Frauenemanzipation - dies vor allem -, der Erschütterung alter Gewißheiten: derjenigen des naturwissenschaftlichen Weltbildes, des Vernunftglaubens sowie insgesamt des Fortschritts?

Die Rezensentin blieb reserviert bis zum sechsten Kapitel. Zwar beeindruckte die Entfaltung des Arguments, die Globalisierung des Kapitalismus habe nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die kulturelle Einheit der „entwickelten Welt“ befördert und dabei gleichzeitig die nicht oder kaum vom Kapitalismus durchdrungenen Gesellschaften zu „unterentwickelten“ Zivilisationen gestempelt. So unterschiedlich diese Zivilisationen im einzelnen auch gewesen seien, so habe sie doch ihre übereinstimmende militärische Unterlegenheit gegenüber der „ersten Welt“ allesamt zu Bestandteilen einer „zweiten Welt“ gemacht. Kulturen, die bislang, wie beispielsweise die chinesische, vor allem als fremd gegolten hätten, seien auf diese Weise als rückständig definiert worden. Doch als im Kapitel über die „Arbeiter der Welt“ die illustrierenden Hinweise aus Österreich, Frankreich, England, den USA und weiteren Ländern einander ablösten, da stand doch die Überzeugung, daß das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit auch als ein - durch konkrete Praxisformen und damit Wertvorstellungen - geprägtes kulturelles Verhältnis zu interpretieren sei, der Bereitwilligkeit im Wege, sich erneut auf bereits überwunden geglaubte Darstellungen von einer Entwicklung „des“ Kapitalismus einzulassen. Erst Hobsbawms brilliante Ausführungen zu den Übertragungen des Konzepts der Heimat auf dasjenige der Nation, wie sie für alle Länder der „ersten Welt“ in dieser Epoche kennzeichnend waren, vermochte die Berechtigung, ja Notwendigkeit einer universalhistorischen Betrachtung als Rahmen für die räumlich notwendig begrenzten - Analysen konkreter Entwicklungsprozesse einsichtig zu machen.

In dem Kapitel über den Nationalismus schlägt Hobsbawms Beschäftigung mit „erfundenen Traditionen“ (vgl. Eric J.Hobsbawm und Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition, Cambridge U.P. 1983) zu Buche. Allen, die das Konzept des Nationalismus neuerdings nicht mehr zu kritisieren wagen, weil es gelegentlich im Zusammenhang politischer Strömungen auftritt, denen sie sich verbunden fühlen, sei die Lektüre dieser Darstellung der historischen Erfindung eines Begriffes von Nation, der die Legitimation von Forderungen nach politischer Eigenständigkeit schließlich an die bloße Existenz von Sprachgruppen band, nachdrücklich empfohlen.

Hobsbawm ist Marxist, aber die Frage nach den Ursachen der historischen Entwicklung steht nicht im Zentrum seiner Analyse des imperialen Zeitalters. Ausdrücklich wird sie nur dreimal gestellt. Hobsbawm frägt (ich kehre die Reihenfolge um) nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs. Bei der Antwort will er offensichtlich sowohl jene marxistische Interpretation, die den Krieg als notwendige Folge kapitalistischer Weltmarktkonkurrenz erklärte als auch die historische Argumentation Fritz Fischers, in der die Ereignisse auf Pläne und Handlungen ganz bestimmter Menschen zurückgeführt werden, umgehen. Übrig bleibt die Feststellung einer Überlagerung von innenpolitischen und internationalen Krisen sowie die Aushöhlung des Friedens. Daran ist nichts falsch, aber das letzte Kapitel dieser Arbeit vermittelt keine neuen Einsichten. Das zweite Mal stellt Hobsbawm die Frage nach dem Warum im Kapitel über die Wissenschaftsentwicklung. Seine Antwort besteht zunächst aus mehreren Warnungen: Wissenschaftliche Entwicklungen seien zwar vereinzelt, aber nicht generell aus politischen Intentionen oder aus der sozialen Herkunft von Wissenschaftlern zu erklären, und wissenschaftliche Revolutionen entsprächen kaum je direkt den veränderungen der sie umgebenden Welt. Die Auflösung der seit dem 17.Jahrhundert tradierten Vorstellungen vom Universum, die er für eine der einschneidensten Entwicklungen der Jahrhundertwende hält, steht für Hobsbawm mit der Tatsache in Zusammenhang, daß die Konfrontation mit unerwarteten und unerwünschten Folgen des Fortschritts bisherige Gewißheiten damals so grundlegend erschütterten, daß vieles für möglich gehalten werden mußte, was bislang undenkbar war.

Hobsbawms dritte Frage nach dem Warum gilt der Entstehung der neuen Kolonialreiche, jener Entwicklung, auf die sich der Titel seines Buches bezieht. Hier zeigt sich Hobsbawms Größe. Nach der Feststellung, die Debatte über diese Frage sei (spätestens seit Lenins Schrift über den Imperialismus) mit derjenigen über den Marxismus verknüpft und deshalb auch emotional besonders aufgeladen, macht er sich vollkommen unaufgeregt daran, die wirtschaftliche Dimension der Kolonialisierungsstrategien zu betonen und gleichzeitig die Annahme, diese Politik hätte sich insgesamt als wirtschaftlich profitabel erwiesen, über Bord zu werfen. Was von traditionellen marxistischen Deutungen des Imperialismus übrig bleibt, ist die Allgemeinheit der Suche nach neuen Märkten, „natürliches Abfallprodukt“ der Globalisierung des Kapitalismus. Das schließt Fehlkalkulationen, Mißerfolge, militärische Erwägungen und Propagandaeinflüsse mit ein. An dieser Stelle ist Hobsbawms Kausalanalyse überzeugend, weil sie bestimmte wirtschaftlich-politische Strategien auf konkrete Trägergruppen und deren Handlungsbedingungen zurückführt, und auch die Möglichkeit unterschiedlicher Praxis bei gleicher Strukturbedingung in Betracht zieht.

Ein derartiges analytisches Konzept bleibt in diesem Buch punktuell. Hobsbawm konfrontiert uns mit der Tatsache, daß sich in der von ihm behandelten Epoche bestimmte allgemeine Trends der kulturellen, sozialen, politischen und vor allem wirtschaftlichen Entwicklung herausbilden. Für alle, die in der Weltgeschichte nicht nur die Wirkungsweise einer Strukturdynamik aufsuchen wollen, sondern der Bedeutung konkrekter sozialer Praxis für die historische Entwicklung nachspüren, ist dieses Buch ein unbequemer Brocken. Daß sich die zentralen Phänomene des Zeitalters allesamt auf die Dynamik des Kapitalismus zurückführen lassen, kann Hobsbawm nicht meinen. Seine besondere Betonung der (im weitesten Sinne) kulturellen Entwicklungen bliebe dann analytisch ohne Gewicht. Wodurch aber kommen die konstatierten Merkmale des Zeitalters zustande?

Geht man dieser Frage nach, fällt auf, daß Hobsbawm die Bedinungen sozialer Praxis - von der zitierten Ausnahme abgesehen - nicht analysiert. Das gilt nicht nur im Hinblick auf jene ganz konkrete soziale Praxis, deren Analyse den Rahmen dieses Buches sprengen würde, sondern auch für ihre allgemeinsten Voraussetzungen: weder die Regularisierung von Lebensvollzügen durch Bürokratisierung und Institutionalisierung noch die Entwicklung der Medien werden als neue Bedingungen für soziale Praxis und als Voraussetzungen für die Verallgemeinerung bestimmter Lebensformen thematisiert.

Was Hobsbawm vorgelegt hat, ist keine Strukturanalyse des imperialen Zeitalters. Dafür ist ihm etwas geglückt, wovon schon viele Historiker träumten: Er hat die Sozialgeschichte eines bestimmten Zeitgeistes verfaßt. Nach allem, was wir gelernt haben, ist das ein unmögliches Unterfangen. Aber hier liegt sie vor uns und provoziert zu Einwänden, Bedenken und zu vielen, vielen Fragen. Die sind ihrem Autor hoch anzurechnen.

Nicht das geringste seiner Verdienste ist die Tatsache, daß dieses Buch leicht zu lesen ist, oft Vergnügen und immer wieder Überraschungen bereitet. Die letzteren sind von unterschiedlicher Natur. Wem ist schon gegenwärtig, daß in der Zeit von 1875 bis 1914 das iranische, osmanische, chinesische und das russische Reich sowie Mexiko von revolutionären Entwicklungen erschüttert und sich gleichzeitig (vor allem in Indien ) die ersten Unabhängigkeitsbewegungen gegen Kolonialherrschaft entwickelten, während in der „ersten Welt“ das Bürgertum politisch unangefochten regierte? Und wer macht sich schon Gedanken darüber, daß das Fahrrad - rückblickend eine der wichtigsten Erfindungen des imperialen Zeitalters - für Männer ein Mittel der Fortbewegung, für Frauen aber auch ein Vehikel ihrer Emanzipation bedeutete? Denn durch das Fahrrad wurde das Gebot des „schicklicheren“ Damensitzes, dem sich die Frauen aus der besseren Gesellschaft, wenn sie zu Pferde saßen, noch immer beugen mußten, endgültig aus der Welt geschafft.

Heide Gerstenberger

Eric J.Hobsbawm: „Das imperiale Zeitalter 1875-1914“, aus dem Englischen von Udo Remmert, Campus 1989, 78 Mark. Das Buch ist der dritte Band einer Darstellung des langen 19.Jahrhunderts. Ihm gingen voraus: „Europäische Revolutionen 1789-1914“, München 1978, und „Die Blütezeit des Kapitals“, München 1977.

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