: Drastische Sprache gegen Militärs erlaubt
Freispruch für den Frankfurter Arzt Peter Augst, der Soldaten als „potentielle Mörder“ bezeichnet hatte / Jugendoffizier Witt will nicht klein beigegeben und in die Berufung gehen / Gericht hofft auf Auseinandersetzungen in der Gesellschaft ■ Aus Frankfurt Heide Platen
Der Frankfurter Arzt Peter Augst sieht angespannt aus, Fieber, Grippe, zuviel Aufregung. Auf der Pressebank zappeln die JournalistInnen hin und her. Selten ist im Frankfurter Gerichtsgebäude ein Urteil mit so viel Spannung erwartet worden wie dieser Freispruch. Die 29. Strafkammer des Landgerichts hob damit ein Urteil der der gleichen Instanz vom 4.September 1986 auf, die den Angeklagten mit über 10.000 Mark Geldstrafe belegt hatte. Soviel sollte der Arzt dafür zahlen, daß er in einer Diskussionsveranstaltung vor Schülern im Sommer 1984 gesagt hatte: „Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder.“
Das Oberlandesgericht hatte diese Entscheidung zur Revision ans Landgericht zurückverwiesen. In die sieben Tage dauernde Verhandlung waren von der Bundeswehr, die als Nebenklägerin auftrat, zahlreiche hochdekorierte Generäle und Militärs als Gutachter und Beobachter geschickt worden. Gestern vormittag allerdings blieb die Bank der Nebenklage fast leer. Einsam und allein saß dort neben seinen Rechtsanwälten nur noch der Jugendoffizier und Hauptmann Witt, der sich in der Diskussionsveranstaltung 1984 persönlich getroffen und gemeint gefühlt hatte.
Dem Vorsitzenden Richter Heinrich Gehrke war es gelungen, das Verfahren zu einem Diskurs über den Atomkrieg - auch im Verteidigungsfall -, dessen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und die Ausbildung von Soldaten zu solch einem Krieg gedeihen zu lassen. Er beendete seinen Vortrag mit der Hoffnung, daß eine Diskussion über den Atomkrieg demnächst „zwischen vernünftigen Menschen“ und „weg von den Gerichten“ in der Gesellschaft geführt werden könne. Gehrke ließ keinen Zweifel daran, daß der Vorwurf, Soldaten seien potentielle Mörder, sowohl für einzelne als auch für die Bundeswehr als Institution ehrenrührig sei. Der Angeklagte Peter Augst habe „subjektiv und objektiv“ beleidigt. Er wertete allerdings das Recht auf freie Meinungsäußerung als das höhere Rechtsgut und begründete dies in sechs Punkten ausführlich.
Zum ersten sei die Meinungsfreiheit ein „schlechthin konstituierendes Lebenselement des Staates“. Je mehr öffentliche Bedeutung „für alle Menschen“ ein Thema, zum Beispiel der Nato-Doppelbeschluß, habe, umso mehr sei ihr der Vorrang zu geben. Außerdem sei die Diskussionsveranstaltung vor SchülerInnen kontrovers geplant gewesen. Ein so erfahrener Jugendoffizier wie Witt habe nicht damit rechnen können, dort „mit Samthandschuhen angefaßt zu werden“. Er selbst habe eingeräumt, anderswo die Titulierung „Arschloch“ klaglos hingenommen zu haben. Großen Wert legte das Gericht auf den „Tatsachenkern“ des Mordvorwurfs und des ebenfalls angeklagten Vorwurfs, die Bundeswehr bilde zum Töten aus. Die Sachverständigengutachten hätten „eine besorgniserregende Dimension“ aufgezeigt. Augst habe angesichts der „entsetzlichen Folgen“ mit „Millionen von Toten und Verletzten“ keine „Außenseitermeinung“ vertreten. Das Verfahren habe gezeigt, daß es für den Atomkrieg „keine Planung“, „keine medizinische Versorgung“ geben könne, sondern nur ein „unbeherrschbares Chaos“.
Gehrke verwies auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, die „im politischen Meinungskampf“ angesichts der „allgemeinen Reizüberflutung“ auch eine drastische Sprache zuläßt. Wichtig sei zum einen der Kontext, zum anderen, welche Bedeutung die Diskussion für die Öffentlichkeit habe und wie gut sie aus öffentlich zugänglichen Quellen überprüft worden sei. Gehrke: „Probleme wie Überbevölkerung, Drogen, Welthunger rechtfertigen eher harte Worte als philosophische Betrachtungen.“ Außerdem lasse sich der Mordbegriff nicht als juristischer auslegen, zumal wohl keiner der Prozeßbeteiligten diesen habe richtig definieren können. Selbst ein deutscher Bischof habe immerhin die legale Abtreibung „ungestraft als Mord“ bezeichnen dürfen. Das Gericht erinnerte auch daran, daß es für Anträge auf Kriegsdienstverweigerung geradezu zwingend sei, auf die „besondere sittliche Verwerflichkeit“ von Kriegen hinzuweisen.
Das Gericht, das in den letzten Wochen zahlreiche Drohbriefe erhalten hatte, kommentierte dies lakonisch: „Damit werden wir leben müssen.“ Staatsanwalt Thiel kündigte an, daß er vorerst zur Fristenwahrung Widerspruch gegen das Urteil einlegen werde, sich endgültige Schritte jedoch erst überlege, wenn die schriftliche Urteilsbegründung vorliege. Hauptmann Witt stellte sich den Fernsehkameras. Er sei entschlossen, die nächste Instanz zu bemühen. Er fühle sich und die Bundeswehr noch immer beleidigt und dies könne nicht ungestraft bleiben. „Dies ist“, so ein Zwischenruf, „sein gutes Recht auf freie Meinungsäußerung!“ (AZ 50JS26112/84NS)
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