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Kreativ und phantasievoll

■ Die sowjetischen Turnerinnen sind bei der Weltmeisterschaft mit einem neuen Trend erfolgreich: Weg vom Gehopse der dürren Kinder

Stuttgart (taz) - Wie kurzlebig doch ein WM-Titel ist oder sein kann: Da wird eine 16jährige Weltmeisterin und sagt während der obligatorischen Pressekonferenz nach der Siegerehrung in aller Ruhe, daß sie schon ans Aufhören gedacht habe. Im Mai dieses Jahres gewann Svetlana Boginskaya die Europameisterschaft, jetzt in Stuttgart auch den Welttitel: „Ich fühle mich noch gar nicht als Weltmeisterin“, sagte die Kunstturnerin, die mit 163 Zentimetern schon zu den ganz Großen ihrer Zwerginnensportart gehört.

In Stuttgart war sie auch mit ihren Darbietungen die Größte und wird es noch eine Weile bleiben: „Ich werde weiterturnen.“ Sie könne noch viel an sich verbessern, gestand sie ein. Auf diese Antwort ließen viele Beobachter Fragezeichen folgen, weil im Frauenturnen Titelverteidigerinnen so selten geworden sind. So, wie Aurelia Dobre nach dem Titelgewinn 1987 in der Versenkung verschwand (sie war in Stuttgart zwar Teilnehmerin, aber nur von statistischer Bedeutung), wird das Boginskaya wohl nicht passieren.

Sie leitete nämlich, zusammen mit ihren Kolleginnen, eine völlig neue Entwicklung ein und setzte sich von der nichtrussischen Konkurrenz meilenweit ab. Freilich, im rein akrobatischen Bereich sind die Abstände noch verschwindend gering. Deshalb konnte auch die Rumänin Cristina Bontas (ein dürres Kind, bei dem man befürchten muß, die Aushungerungspolitik Ceausescus erfasse nun auch schon die oberen 10.000) im Endergebnis des Mehrkampffinales dicht aufschließen.

Die neue Entwicklung aber zeigt sich am Boden deutlich. Eine Cristina Bontas hüpft über die Fläche, wirbelt Flugteile perfekt durch die Luft und erhält zwar die Höchstnote 10, aber ohne irgendwelche Inhalte mitgeteilt zu haben.

Die sowjetischen Turnerinnen, keineswegs zerbrechlich oder gar kindlich wirkend, zeigen hingegen perfekte Choreographie, Kreativität und lebendige Phantasie. Sie interpretieren schwierigste Musik: Folklore von Weltmeisterin Boginskaya, Klassik von Strazheva und Lashchenova. Mit kompliziertesten Bewegungen tanzen die Sowjets über die Matte, lassen jeden einzelnen Muskel spielen, jeweils passend zum Rhythmus der Musik. Keine Show, bei der oberflächlich mitgeklatscht werden kann. Die Zuschauer selbst werden zur Konzentration gezwungen.

Boginskaya tanzt eine „Fiesta“, spielt Gitarre (man sieht förmlich das Instrument) und stellt ihre eigene Persönlichkeit dar: Konzentration, Geschmeidigkeit, Zurückhaltung. Wer ihre Kür aufmerksam verfolgt, lernt die 16jährige selbst kennen. Boginskayas schärfste Konkurrentin (abgesehen von denen aus dem eigenen Lager), Daniela Silivas aus Rumänien, hinkt der Entwicklung weit hinterher.

Und sie stellte sich hier als schlechteste Verliererin vor. Als bereits sichere Vizeweltmeisterin warf die 18jährige das Handtuch am letzten Gerät, als Boginskaya als Siegerin feststand: Silivas heulte, patzte an der Balkenkür und stürtzte. Schlimmer noch die Reaktion ihrer Mitturnerinnen: Weder Bontas noch Potorac, beide mit Silivas im Finale, standen ihr bei, nachdem sie innerlich gebrochen war: als seien ihnen selbst kleine menschliche Regungen fremd.

Das krasse Gegenteil bei den Turnerinnen der UdSSR: Nachdem Olessia Doudnik - sie hätte Boginskaya den Titel streitig machen können - sich am Stufenbarren verturnt hatte, liefen alle Genossinnen zu ihr und lehnten sich weit über die Werbebande, um sie zu trösten.

Die Sowjetturnerinnen sind ihren Nachfolgerinnen enteilt, nicht nur bei den Wertungen.

Thomas Schreyer

Barren, Frauen: 1. Fan Di (China) 10 und Daniela Silivas (Rumänien) 10, 3. Olga Straschewa (UdSSR) 9,975, 4. Christy Henrich (USA) 9,950, 5. Gabriela Potorac (Rumänien) 9,925, 6. Yang Bo (China) 9,900

Sprung, Frauen: 1. Olessia Dudnik (UdSSR) 9,987, 2. Cristina Bontas (Rumänien) 9,950, 3. Brandy Johnson (USA) 9,943, 4. Natalia Latschenowa (UdSSR) 9,868, 5. Milena Mavrodiewa (Bulgarien) 9,812

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