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Krenz reist als erster - nach Moskau

■ DDR-Chef will Gorbatschow besuchen / FDP schwer beeindruckt von Dresdener SED-Vorsitzendem Modrow / Gewerkschaft will sich von der Partei freischwimmen / Sowjetische Presse übt Kritik an Honecker

Berlin (taz/ap/dpa) - Lange bevor jeder DDR-Bürger den heißbegehrten Reisepaß haben wird, macht Egon Krenz den Abflug - Richtung Moskau. Telefonisch hat Gorbatschow den neuen Mann an der Partei- und Staatsspitze der DDR eingeladen, wie 'adn‘ berichtet. Der Besuch solle in „nächster Zeit“ stattfinden.

Ginge es nach den sowjetischen Zeitungen, dann würde bei diesem Treffen nicht - wie seit Tagen in den DDR-Medien Honecker totgeschwiegen. Zum ersten Mal hat eine sowjetische Zeitung, das Gewerkschaftsblatt 'Trud‘, heftige Kritik an der DDR und dessen Ex-Partei- und Regierungschef geübt. Die DDR habe, so schrieb das mit 19 Millionen Exemplaren auflagenstärkste Blatt am Sonntag, eine „Mauer ohne Türen und Fenster“ errichtet. Als Konsequenz des Verschweigens von realen Problemen und des Personenkults um Honecker hätten Zehntausende das Land verlassen. Hinsichtlich der DDR -Berichterstattung über die Sowjetunion sei „der Eindruck entstanden, daß irgend jemand nicht die Wahrheit über die Reformen in der Wirtschaft und die Demokratisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens berichten wollte“. Aus genau diesem Grund hatte die DDR Anfang 1987 die sowjetische Zeitung 'Sputnik‘ verboten - eine Maßnahme, die „zum schnellstmöglichen Zeitpunkt“ wieder aufgehoben werden soll, wie 'adn‘ verkündete.

Weitere konkrete neue Maßnahme neben dem angekündigten Reisegesetz ist das Angebot des DDR-Außenministeriums an alle ausgereisten DDR-BürgerInnen, in die ungeliebte Heimat zurückzukehren, sofern dem „nicht triftige Gründe entgegenstehen“. Dritte Neuheit ist, daß die DDR das bestätigt, was UmweltschützerInnen seit Jahren vermutet haben: Fünf Millionen Tonnen Schwefeldioxid und 955.000 Tonnen Stickoxide verpesteten 1987 das Land. Bislang wurden Umweltdaten geheimgehalten.

FDP beeindruckt

Bei dem Besuch einer FDP-Delegation in Dresden hat der örtliche SED-Chef Hans Modrow seine wochenlange Schweigsamkeit gebrochen. Der Mann wurde ja bereits vom 'Neuen Deutschland‘ als einer der Drahtzieher bei Honeckers Sturz gewürdigt. In dem Gespräch mit dem FDP -Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick erklärte Modrow, er wolle die DDR-Volkskammer und die regionalen Parlamente stärken, um eine bessere Beteiligung der Bevölkerung an den politischen Entscheidungen im Lande zu erreichen. Mischnick, der sich mit 40 FDP-Abgeordneten und Fraktionsmitarbeitern in Dresden aufhielt, hatte am Freitag zwei Stunden mit Modrow geredet. Er äußerte sich anerkennend über den angeblichen „Gorbatschow der DDR“, der die Notwendigkeit zu Weiterentwicklungen in der DDR klar erkenne. Diese bahnbrechende Einsicht konkretisierten beide mit dem Wunsch nach Kontakten zwischen Bundestag und DDR-Volkskammer.

Modrow sei in der Lage, „Vertrauen aufzubauen und auszubauen“, sagte Mischnick. Das trauen die wenigsten Egon Krenz zu. So notierte ein 'dpa'-Korrespondent die Worte eines Taxifahrers: „Dieser Alkoholiker hat uns gerade noch gefehlt“, auf die Trinkfreude des DDR-Oberhauptes anspielend.

Tisch: Gewerkschaften sollen Position beziehen

Der DDR-Gewerkschaftsbund FDGB ringt derzeit um eine eigene Position. Der FDGB-Vorsitzende Harry Tisch hat in einem Gespräch mit Gewerkschaftsfunktionären des Ostberliner Großbetriebes VEB Bergmann-Borsig erklärt, er halte nichts davon, wenn in Betrieben von einem „Dreiklang“, von schematischer Zusammenarbeit von Gewerkschaft, Betriebsleitung und Partei gesprochen werde. Besser sei es, die Gewerkschaft fände und vertrete konsequent ihre eigene Position, sagte das Politbüromitglied. Es gehe bei der gewerkschaftlichen Interessenvertretung „auch um die Bewahrung oder Wiedererlangung kämpferischer Positionen ganz im leninschen Sinne“, heißt es in einem Beitrag der Gewerkschaftszeitung 'Tribüne‘ vom Montag, den die DDR -Nachrichtenagentur 'adn‘ vorab am Sonntag verbreitete.

Die Arbeiter gingen hart mit den bestehenden Wirtschaftsmechanismen und Arbeitsbedingungen ins Gericht. So habe ein Arbeiter auf „Zahlenhascherei“ aufmerksam gemacht. „Obwohl sein Betrieb nachweisbar mit etlichen Millionen Mark im Keller sitze, würden an die entsprechenden Stellen der wirtschaftsleitenden Organe stets gute Werte gemeldet“, heißt es in dem 'Tribüne'-Bericht. Ein anderer Funktionär meinte, „im Wettbewerb werde mit Zahlen gearbeitet, die ohne Inhalt sind, auf dem Papier stehen, und Monat für Monat, Jahr für Jahr durchgezogen werden“.

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