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Keine Atempause für DDR-Führung

■ Neue Demonstrationen zwingen DDR zu schnellen Entscheidungen über Reisegesetz / SED verliert Angst vor Straßendiskussion / Polizeiübergriffe des 7. und 8. Oktober im Mittelpunkt der Diskussion / Allergische Reaktion auf Berichte über Mißhandlungen

Berlin (taz/dpa/ap) - Die Bevölkerung der DDR gönnt dem neuen Staats- und Parteichef Egon Krenz keine politische Schonfrist, wie es zum Teil auch aus Kreisen der Opposition gefordert wird. Unter dem Druck neuer Demonstrationen beschleunigt die SED die Arbeit an dem geplanten Reisegesetz, überwindet ihre Angst vor Straßendiskussionen und öffnet die Medien weiter der Kritik. Allergische Reaktionen indes auf ein Thema, das am Wochenende in den Mittelpunkt der Proteste rückte: die Mißhandlungen von Demonstranten am 7. und 8. Oktober durch Polizei und Stasi -Leute in Ost-Berlin und anderen Städten.

Während am Samstag nachmittag das Städtchen Plauen erneut mit 30.000 Demonstranten seinem neuen Ruf als Demofrontstadt alle Ehre machte, bildeten in Ost-Berlin 3.000 Menschen eine Kette und zogen vor das abgeriegelte Polizeipräsidium. Ihre Wut galt insbesondere dem gewaltsamen Vorgehen der „Sicherheitsorgane“ zum Republikjubiläum. Sie verlangten die Freilassung der Inhaftierten und Einstellung sämtlicher Verfahren gegen gewaltlose Demonstranten. Unbekannt ist die Zahl der Verhafteten. Bei einer Veranstaltung in Potsdam wurde am Samstag berichtet, daß allein 150 Polizisten wegen Befehlsverweigerung im Militärgefängnis Schwedt sitzen.

Über diese Themen sprach der Ostberliner SED-Chef Schabowski, der sich am Samstag vor dem Palast der Republik der Diskussion stellte, nicht. Berichten des DDR-Fernsehens zufolge redete Schabowski hauptsächlich über die geplanten Reiseerleichterungen. Die Reisefrage habe höchste Priorität und werde bereits Anfang dieser Woche in den zuständigen Gremien beraten. Befürchtungen, die Führung baue wieder eine „neue Falle“, entgegnete Schabowski: „Wir werden eine Zeitlang damit leben müssen, daß alles, was wir jetzt machen, als eine Falle verstanden wird, obwohl es keine ist.“

Diese scheinbare Souveränität der Partei gegenüber ihrer tiefen Glaubwürdigkeitskrise existiert in der Frage der Polizeiübergriffe nicht. Auf die Forderungen nach einer öffentlichen Untersuchung der Vorgänge in Ost-Berlin reagierte die SED bislang mit Ignoranz. Unerwähnt blieb im DDR-Fernsehen die Tatsache, daß nach diversen ähnlichen Resolutionen jetzt auch die Vollversammlung der Akademie der Künste eine öffentliche Untersuchung verlangt. In dem Appell an Volkskammerpräsident Horst Sindermann, unterzeichnet unter anderem von Christa Wolf, Stephan Hermlin, Hermann Kant, Maler Willi Sitte sowie Heiner Müller, heißt es: „Die Mitglieder der Akademie sind entsetzt über die zahlreichen Fälle von brutaler Gewalt, die in der letzten Zeit in verschiedenen Städten der DDR durch Sicherheitskräfte an Demonstranten und Unbeteiligten verübt wurden. Schriftliche oder mündliche Augenzeugenberichte liegen uns vor oder sind uns bekannt. Sie ergeben ein empörendes Bild der Ereignisse.“

In die gleiche Kerbe schlägt ein gestern der Synode vorgelegter Sonderbericht des Landeskirchenamtes Sachsen einen Tag nach einer neuen friedlichen Demonstration von 20.000 bis 50.000 Menschen. Das Papier dokumentiert mehr als hundert Fälle von angewandter Staatsgewalt in Polizeirevieren, Gefängnissen und Kasernen. Die Kirche berichtet von „390 Meldungen von Vermißten, Zugeführten und Verhafteten“ bei Dresdener Demonstrationen zwischen dem 3. und 8. Oktober.

Ein Bereitschaftspolizist schildert, wie in den Kasernen „Frauen, Mädchen und ältere Menschen geschlagen wurden“. In einem anderen Protokoll heißt es, bei der Durchsuchung sei eine Visitenkarte des ZDF gefunden worden. Ein Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes habe daraufhin gesagt: “'Du wirst mich um Gnade anflehen, West-Spion...‘ Er schlug mich mehrfach, einmal mit der Faust ins Gesicht, und trat mir auf die Füße. Er bezeichnete mich als Hure von ZDF-Leuten.“ Fortsetzung auf Seite 2

Weitere Berichte zur DDR

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FORTSETZUNG VON SEITE 1

Auf einen ZDF-Bericht über Mißhandlungen von festgenommenen Frauen durch Vopos reagierte die „Aktuelle Kamera“ am Samstag abend mit alter Schärfe: Nach Diktat von der amtlichen Nachrichtenagentur 'adn‘ keifte die Sprecherin über die „infame Behauptung“ des ZDF, die das DDR -Innenministerium sofort „unter Protest“ zurückgewiesen habe. Nicht „den Schatten eines Beweises“ habe der Korrespondent vorgelegt.

„Wer so unter die Gürtellinie geht, kann nichts anderes im Sinn haben, als Menschen zu verhetzen und Emotionen anzuheizen, die einen sachlichen, konstruktiven Dialog erschweren oder gar unmöglich machen sollen“, hieß es im Kommen

tar.

Daß die Polizeiaktionen am Wochenende zum Teil im Mittelpunkt der Demonstrationen und Verlautbarungen standen, muß die Führung um so mehr schmerzen, als sie noch am Freitag abend versucht hatte, das Thema kleinzukochen. 'adn‘ ließ verbreiten, daß der stellvertretende Präsident der Ostberliner Volkspolizei zugesagt habe, den 60 vorliegenden Eingaben und Beschwerden über das Verhalten der Polizei werde „gründlich nachgegangen“. Und der stellvertretende Generalstaatsanwalt Klaus Voß erklärte laut 'adn‘, alle „Unbeteiligten“ zugefügten Schäden seien „unverzüglich wiedergutzumachen“. „Ich kann versichern,“ zitiert 'adn‘ den Staatsanwalt weiter, „wenn sich der Verdacht einer Straftat ergibt, wird der Verantwortliche auch zur Verantwortung gezogen...“

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