: Q U E R S P A L T E Pornographie statt Ikonographie
■ Zeiss Ikon hat unsere Jugend verdorben / Eine Lanze fürs Schlüsselloch
Eine gehörige Portion Zynismus muß jenen Menschen schon auszeichnen, der auf die Idee kam, den führenden Hersteller von Sicherheitsschlössern in der Republik nach dessen Verkauf an eine finnische Muttergesellschaft ausgerechnet mit dem Namen „Ikon Aktiengesellschaft“ zu versehen. Schlimm genug, daß „Ikon“ schon bei der bisherigen Firma als Beiname hinter „Zeiss“ auftauchte (siehe Wirtschaftsseite). Das schöne Wort Ikon kommt bekanntlich aus dem altgriechischen und bedeutet immerhin soviel wie „Abbildung eines Gegenstandes“, „ikonisch“ steht gar für „anschaulich“. Nun hat wohl kaum eine Traditionsfirma hierzulande einen größeren Anteil gerade an der Zerstörung von Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit wie das alte sächsische Fabrikationshaus. Ist doch Zeiss Ikon seit 1926 als Hauptverantwortlicher anzusehen für den unaufhaltsamen Niedergang eines Kulturgutes, mit dem unsere Altvorderen noch allemal aufgewachsen sind: des Schlüsselloches, das über die Jahrhunderte nicht weniges bildhaft und anschaulich gemacht hat. Wer vermag denn heute noch durch ein Zeiss-Ikon -Präzisionssicherheitsschloß auch nur das Geringste zu erspähen? Und wer vermag andererseits die Folgen dafür abschätzen, daß unsere Heranwachsenden heute ohne dieses Loch, das für viele Menschen und in vielen Situationen die Welt bedeutete, auskommen müssen?
Dies betrifft die Jugend dabei nicht nur, weil sie es ist, deren gierige Blicke sich durch den Druck der Pubertät irgendwelche Ausguck- (und Einblick-)Schlupflöcher verschaffen müssen. Heute dagegen heißt es: Pornographie statt Ikonographie! Nein, was der Jugend abgeht dank solch sensibler Firmen wie Zeiss oder Ikon oder wie sie alle heißen, samt ihrer menschenfeindlichen Sicherheitspräzision, ist die Erfahrung in lebensnaher Technologie, angepaßte Lauschtechnik, mit der einst buchstäblich jedes Kind umgehen konnte. Abhören, bespitzeln, beschatten, spionieren - all das geht nun nurmehr „highly sophisticated“, mithin völlig entfremdet. Die Tatsache, daß gerade junge Leute heute auch in dieser Sphäre operieren und sich als clevere Profihacker betätigen, mag beweisen, daß einige wenige auch in diesen Zeiten mithalten können. Ein Ersatz fürs Schlüsselloch für jedermann kann das nicht sein.
Ulli Kulke
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