Einschüchtern durch Gewalt

■ Gestern stellte das Ostberliner Stadtjugendpfarramt eine Dokumentation über die Mißhandlung von Demonstranten vor

Jetzt gerät Egon Krenz, der neue SED-Generalsekretär, selbst ins Kreuzfeuer der Kritik. Schließlich war er im Politbüro für Sicherheit zuständig, als am 7. und 8. Oktober DDR -„Sicherheitsorgane“ die gesammelte Wut der Staatsmacht an Ostberliner Demonstranten ausließen. Vermutlich kam ein Demonstrant dabei zu Tode: Er wurde von einem Polizei-LKW angefahren und überrollt.

Die Bilder, die durch die Dokumentation hervorgerufen werden, kommen einem bekannt vor. Sie ähneln sich überall da, wo „Sicherheitskräfte“ losgelassen werden, um ihre Angst, ihren Frust und ihren Sadismus an opponierenden Bürgern auszulassen. Es ist fast nie der einzelne Polizist, der da „ausklinkt“, jeder von ihnen ist vielmehr selbst Teil einer Strategie der Einschüch terung.

Szenen wie die in den Ostberliner Stadtteilen Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg kannten DDRler bisher nur aus dem Fernsehen - aufgenommen im Westen. Aus (wie man sieht: berechtigter) Angst gingen in der DDR bis Anfang Oktober keine protestierenden Menschenmengen auf die Straße; der Anlaß zu solcher Art der Repression fehlte also bisher. Jeder DDR-Bürger kennt staatliche Gewalt aus seinem Alltag, doch daß der Staat die Menschen eines ganzen Stadtteils zum Feind erklärt, dieses Erlebnis hat wie ein Schock gewirkt.

Vielleicht muß man die stille, bittere Wut der Menschen am Prenzlauer Berg erlebt haben, um zu verstehen, was da zerstört worden ist. Es gab doch die Erwartung - dieses Motiv taucht in den Erlebnisprotokollen immer wieder auf -, daß bestimmte Dinge in der DDR nicht mehr möglich seien. Der staatlichen Seite ging es um das exakte Gegenteil: zu zeigen, daß sie möglich sind. Das wurde verstanden, und daher das Erschrecken.

Die Dokumentation des Stadtjugendpfarramts reiht die einzelnen Erlebnisprotokolle ohne jede Bearbeitung aneinander. Das macht ihre Authentizität aus und belegt gerade durch die ganz unterschiedliche Schilderung gleichartiger Vorgänge, daß es sich um eine genau kalkulierte Taktik handelte. Die Bereitschaft zum Protest sollte gebrochen werden durch Mißhandlung und Demütigung.

Die Beliebigkeit, mit der die Opfer herausgegriffen wurden, zeigt, daß dieser Staat fast alle BürgerInnen für potentielle Gegner hält.

Die Repression vom 7. und 8.Oktober war der hoffentlich letzte Versuch, das alte verkrustete System mit Gewalt zu retten. Wenn jetzt ein neuer Anfang versucht wird, dann muß die Führung ihre Taktik aufgeben, die Wahrheit scheibchenweise einzuräumen und die staatliche Gewalt als „Übergriffe“ zu individualisieren. Geklärt werden muß, was aus dem jungen Mann geworden ist, der von einem Lkw der Polizei überrollt wurde. Rehabilitiert werden müssen all diejenigen, die für ihr ziviles Engagement auch noch strafrechtlich belangt wurden oder gegen die noch Ermittlungsverfahren laufen. Aufgeklärt werden muß das Schicksal jener etwa einhundertfünfzig Bereitschaftspolizisten, die in jenen Tagen den Befehl verweigert und deshalb noch heute im Militärgefängnis Schwedt inhaftiert sein sollen.

Und es müssen diejenigen, die diese Taktik befohlen haben, namentlich bekanntgemacht und zur Verantwortung gezogen werden. Welche Rolle haben gespielt: der Minister des Innern, Armeegeneral Friedrich Dickel, der Minister für Staatssicherheit, Politbüromitglied Erich Mielke, der damalige ZK-Sekretär für Sicherheit, Egon Krenz, und das ehemalige Politbüromitglied Günter Mittag, der - wie aus ZK -nahen Quellen verlautet - den Einsatz in Berlin geleitet haben soll?

Walter Süß