piwik no script img

Schnitzler schwimmt im „Schwarzen Kanal“

■ DDR-Fernsehkommentator ist aber noch nicht untergegangen / Jüngste Sendung Hit in der DDR

Üblicherweise seien einem Politiker nach einem Machtwechsel 100 Tage Schonfrist gegeben. „Üblicherweise“, sagt Karl Eduard von Schnitzler hämisch. „Bei einem Kanzler vielleicht, aber keine 100 Sekunden bei einem neuen SED -Generalsekretär. Nach seinem jahrzehntelangen Kampf gegen die „Säer des Mißtrauens in unserer Republik“ haben sich tiefe Furchen im Gesicht gebildet. Wieder mal will der Westen nicht begreifen: daß der Osten es nämlich ernst meint mit „tiefem Nachdenken, sofortigen, mittelfristigen und langfristigen Veränderungen und einer grundlegenden Wende“.

Und dann präsentiert der Mann Thesen in geradezu lutherischer Manier: “ 1. Die Macht der Arbeiter und Bauern bleibt unantastbar; 2. Fragen nach dem Sozialismus, ja; den Sozialismus in Frage stellen, nein; 3. Kritischer Dialog mit allen Schichten des Volkes, ja; organisierte antisozialistische Opposition, nein; 4. Was wir machen, machen wir nicht abhängig von der Beurteilung durch den Westen; 5. Wir befinden uns in einer Startphase, nicht auf Null, sondern auf Erfolgen basierend, auf Fortschritten, nach denen sich Drittelgesellschaften in West und auch Ost die Finger lecken könnten; 6. ...Es wird keine Demontage der Vergangenheit geben, aber auch keine Demontage der Leistungen Erich Honeckers, keine Selbstkasteiungen und keinen Amoklauf; 7. Wir lassen uns aus dem Staat der Globkes, der Neofaschisten und des freien Thälmann-Mörders nicht unseren Antifaschismus madig machen; 8. Wir haben begonnen, Antworten zu geben und Veränderungen vorzunehmen; abgewogen, schnell, aber nicht oberflächlich, ohne Sofortismus, Chaos oder Hysterie; und ohne Antworten aus der Hüfte; 9. Wir haben keinen Joker, den wir plötzlich aus der Tasche ziehen könnten, das wäre Falschspiel; das überlassen wir Bonn... Wir meinen es ernst...“

Schnitzler will weiterkämpfen: „Der Klassenkampf geht weiter, auch im Äther... Wir haben eine Wende in der Medienpolitik eingeschlagen. Probleme, Umwege, Rückschläge, auch Niederlagen sind in unseren Sendungen keine Tabus mehr. Schneller, vollständiger sind wir bereits... Lenin möge mir verzeihen: Aber vielleicht müßte heute angestrebt werden, Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.“

Doch gerade Vertrauen ist Mangelware. Des Gralshüters Gratwanderung indessen hat erste Erfolge gezeigt. Wie uns aus gutunterrichteten Kreisen der Hauptstadt zugetragen wurde, hatte der Schwarze Kanal vom Montag Rekordeinschaltquoten. Alle wollten daheim sehen, wie Schnitzler schwimmt.

AS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen