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„Krenz, wir sind nicht deine Fans“

Für das brisantesten Ereignis des Tages hielt die Aktuelle Kamera (AK) am Montag abend den Auftritt einer Mumie aus Vietnam. Hartnäckig. Noch Stunden nachdem die Weltöffentlichkeit von der größten Demonstration in der Geschichte der DDR erfahren hatte, erklärte das DDR -Fernsehen den Besuch von KP-Generalsekretär Van Linh zur Top-Nachricht. Egon Krenz bewies mehr Gespür für Aktuelles. „Jede konkrete Tat ist besser als eine lange Erklärung“, griente er in die Kamera. Eine weitverbreitete Ansicht in der DDR, dem DDR-Fernsehen zufolge indes in erster Linie von der SED vertreten. An fünfter Stelle erwähnte die AK die Leipziger Demonstration.

„Die Zahlen sind nicht mehr richtig zu schätzen“, berichteten übereinstimmend mehrere Augenzeugen. 200.000, 300.000? Auf jeden Fall „viel, viel mehr als beim letzten Mal“, heißt es. Wie jeden Montag setzte sich der Zug nach den Friedensgebeten in Bewegung. Manche müssen sich „eine ganze Woche hingesetzt haben und akkurat in Kursivschrift Transparente gemalt haben“, vermutet ein Beobachter. An den Fahnenmasten vor dem Gewandhaus auf dem Karl-Marx-Platz hingen plötzlich die Forderungen nach Pressefreiheit, freien Wahlen, Legalisierung des Neuen Forums. Am Bahnhof treten zwei Verkehrspolizisten von einem Fuß auf den anderen und erinnern an die Existenz der Bereitschaftspolizei. Wenige hundert Meter weiter - kurz vor dem von Kerzen hellerleuchteten Stasi-Gebäude - baumelt ein Transparent von der Fußgängerbrücke über dem Friedrich-Engels-Platz: „Modrow statt Krenz“. Es bleibt unklar, ob diese personelle Alternative mehrheitsfähig ist.

Aber eins ist klar: Egon Krenz genießt in Leipzig kaum Rückhalt. „Seine FDJ-Zeit war übel“, so ein Demonstrant, „ansonsten sage ich nur: Wahlfälschung, China, Polizeieinsatz und Einbruch in den Alkoholkonsum.“ Sprechchöre und Transparente verheißen dem neuen Staatsoberhaupt keine allzu freudvolle Zukunft. „Egon Krenz, wir sind nicht deine Fans“, „Sozialismus krenzenlos“, „Ökonomie statt Egonomie“, „SED tut weh“.

Von all dem keine Silbe, kein Bild in der Aktuellen Kamera. Statt dessen eine ausführliche Sequenz über die Demonstration der 40.000 in Schwerin. Ganz im Hintergrund, aber doch unübersehbar ein Transparent: „Zulassung des Neuen Forums“. Zehnmal so groß wie zwei formatfüllend eingeblendete Schilder: „Meine Tat für den Sozialismus“ und „SED - die führende Kraft“. Die Partei hatte gemeinsam mit dem Stadtrat zur Kundgebung „eingeladen“. Eine Rednerin durfte das brennendste Problem der Republik in die Wohnzimmer tragen. Sie kritisierte, daß „Gemüse unter dem Warentisch angeboten wird“. Der Reporter stolz: „Hier war Platz für Kritik.“ Ein SED-Sekretär rief auf, die „Diskussion dort zu führen, wo sie hingehört“.

Das ist bekanntlich nach Ansicht der SED nicht die Straße. Aber die Partei führt den Dialog, besser: sie beginnt, ihrem Volk zuzuhören. Unbestreitbar. Doch sie scheint immer noch nicht zu begreifen, wie tief das in vierzig Jahren gewachsene Mißtrauen sitzt und daß die Bevölkerung klüger ist, als die Partei es sich denkt. „Leipziger seid wachsam“, warnte ein Transparent vor den unverhohlenen Absicht der über Nacht dem Stalinismus abschwörenden Parteigänger, die Reformbewegung als ihre Erfindung zu reklamieren. Auffallend, daß in Leipzig - soweit bekannt - kein einziges SED-Schild zu sehen war.

Wie sich der Versuch, die Bewegung zu vereinnahmen, realisiert, bewies wiederum die Aktuelle Kamera. Über das Stadium des verordneten „Dialogs“ zwischen Bürgermeistern und irgendwelchen Bürgern ist die SED hinaus. Politbüro und Zentralkomitee haben auch die Minister zum Handeln verpflichtet. Bauminister Wolfgang Junker stellte sich auf einer Leipziger Baustelle. Angesichts der Tatsache, daß große Teile der Messemetropole seit Jahren akut einsturzgefährdet sind, bescheinigt der Minister der Stadt einen „unübersehbaren Nachholbedarf. Der AK-Kommentator deutet Lösungen an. Meister Peter Selle daraufhin: „Aber zu oft klemmt noch die Säge.“ Der Minister verspricht mehr Mittel, eine „beschleunigte Bauentwicklung und eine exaktere Planung“, verbunden mit mehr Eigenständigkeit für die Kommune. Ein Bild von den lebensgefährlichen Wohnverhältnissen im Leipziger Osten fehlt. Zuviel verlangt? Wahrscheinlich.

Geduld und Souveränität kennzeichnen Teile der organisierten Opposition. Entkrampft ihr Verhältnis zur SED. Gelassen nimmt zum Beispiel das Neue Forum Leipzig zur Kenntnis, daß ihre Mitglieder und Sprecher nur als Einzelpersonen zu offiziellen Veranstaltungen eingeladen werden. „Das ist schon nicht mehr durchgängig so“, sagt Forumsmitglied Ernst Demele. Mittlerweile hat die rund 3.000köpfige Gruppe über 60 Einladungen von Schulklassen, Studenten und Betrieben erhalten. Das Neue Forum arbeitet in 13 regionalen und thematischen Arbeitsgruppen und hat das „erste DIN-A4-Blatt unserer künftigen Zeitung“ in Umlauf gebracht.

All das bestärkt Ernst Demele in der Auffassung: „Wenn die SED trickst, wird die Geschichte sie wegspülen. Die Genossen müßten es eigentlich wie wir noch aus der Schule erinnern, daß die Geschichte sich nach Gesetzmäßigkeiten entwickelt. Wer das nicht begreift, auf den nimmt die Geschichte keine Rücksicht. Die SED muß sich reformieren und genauso um die Massen kämpfen wie wir. Dann wird sie etwas für das Volk tun können.“

Einer, der nach vierzig Jahren die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu entdecken beginnt, ist Tapeten-Hager. Nach 77 Lebensjahren ein vorsichtiger Abschied von Wesenszügen des Stalinismus. Der Schmerz stand Hager ins Gesicht geschrieben, als er vor laufender Kamera von „Elementen des Personenkults“ um Honecker sprach. Dieser Auftritt muß die Journalisten derart tief bewegt haben, daß sie die simpelsten Regeln ihres Handwerks ein weiteres Mal sträflichst vernachlässigten. Beim Bericht über die Pressekonferenz zum Ostberliner Polizeiterror Anfang Oktober kamen Staatsanwalt und Kirchenmann zu Wort, nicht dagegen die Veranstalter der Pressekonferenz und die unmittelbar Betroffenen. Wie lange werden die DDR-Medien die Republik noch zwingen, die Westprogramme einzuschalten?

Petra Bornhöft

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