: Das Vertrauen wiederherstellen
Der Leipziger Gewandhauskapellmeister Professor Kurt Masur im Gespräch mit dem 'Morgen‘, Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands ■ D O K U M E N T A T I O N
Der Morgen: Seit drei Wochen wird in Leipzig jeweils montags demonstriert. Sie wandten sich an Ihre Mitbürger und forderten zu friedlichen Aktionen auf. Mit Ihrer ganzen Autoriät versprachen Sie, sich für einen Dialog einzusetzen in unserer Gesellschaft. Hat diese Bewegung nun neue Impulse bekommen?
Prof.Kurt Masur: Ich glaube, daß niemand damit gerechnet hat, daß einige Schritte so schnell gehen würden. Die einzige Furcht, die wir alle hatten, war, daß wir dann in die Gefahr geraten, daß es damit auch genug ist. Doch die Gefahr liegt auf beiden Seiten. Staatsführung, SED-Führung haben bewiesen, daß sie über Wochen, über Monate nicht bemerkt haben, daß im Volk etwas nicht in Ordnung ist. Sonst hätte die Bereitschaft, mit unseren Menschen zu sprechen, viel früher entstehen müssen. Es gab genügend Anträge und Hinweise aus allen Teilen der Bevölkerung. Im ersten Stadium war unser aller Bestürzung sehr groß. Es gab so falsche und ich möchte sagen auch instinktlose Reaktionen in den Massenmedien. Das alles hat die Gemüter so erhitzt, daß es zu den Reaktionen kam, die wir kennen.
Sie haben am vergangenen Wochenende das Gewandhaus den Bürgern zum Dialog zur Verfügung gestellt. Am Montag haben Sie Ihre musikalische Arbeit unterbrochen. Worin liegen die Gründe dafür?
Wissen Sie, unser Beruf kann nicht mit Pflichtbewußtsein erledigt werden. Wenn wir eine Schallplattenproduktion für diesen Tag absagten, so deshalb, weil wir wollen, daß sie in zwanzig oder dreißig Jahren noch Gültigkeit hat und Zeugnis ablegt von der Leuchtkraft des Orchesters, welches Weltruf besitzt. Doch wir alle besitzen im Augenblick diese Leuchtkraft nicht. Wir brauchen dazu eine Basis, um wieder sagen zu können: ich bin stolz darauf, hier zu sein, ich liebe meine Heimat, ich liebe diese Art und Weise zu leben.
In den letzten Jahren wurde oft behauptet, unser Gewandhaus wäre eine Insel, doch ich habe dem immer wieder entgegengesetzt: Wir sind angewandter Sozialismus. Das Haus ist gebaut worden von unseren Arbeitern mit weniger als einem Prozent Valutamittel. Es ist also unsere Produktion, und es ist weltweit berühmt wegen seiner Qualität. Am 7.Oktober 1981 zur Eröffnung des Gewandhauses waren 110.000 Menschen auf dem Karl-Marx-Platz erschienen. Heute, acht Jahre danach, ist eine noch größere Anzahl von Menschen hier wieder versammelt, doch mit grundlegend anderen Motiven. Nun muß man mit Christa Wolf fragen: Was ist aus unseren Menschen in der Zwischenzeit geworden?
Herr Professor, Sie besitzen große Autorität in unserem Land und haben oft, nicht nur während der Messe in Leipzig, Gelegenheit, mit führenden Repräsentanten unseres Staates zu sprechen. Welche Ratschläge würden Sie ihnen in der gegenwärtigen Situation geben wollen?
Wenn ich jetzt Egon Krenz etwas sagen könnte, dann denke ich an meinen Tag, als ich eingesetzt wurde als Gewandhauskapellmeister. Man fragte mich, ob ich stolz sei. Doch ich antwortete, ich habe eigentlich nur das Gefühl, daß ich eine große Last auf mich genommen habe, eine Verantwortung, von der ich noch nicht weiß, ob ich ihr gerecht werden kann. Für mich war es immer sehr wichtig, daß ich das, was ich sage, auch meine und tue. Und im Augenblick, glaube ich, müßte Egon Krenz das gleiche fühlen. Wenn ich ihm jetzt etwas mitteilen könnte, würde ich sagen, daß es ihm in erster Linie darum gehen sollte, das Vertrauen zwischen der Bevölkerung und der Führung unseres Landes wiederherzustellen. Weder die SED noch die Staatsführung besitzen mehr das Vertrauen der Bevölkerung. Ich rede nicht für jeden, aber ich glaube für eine große Mehrheit. Der Vertrauensverlust ist erklärbar aus den zurückliegenden Versäumnissen. Und seine Wiedergewinnung wäre die einzige Basis für einen Neuanfang.
Der Montag in Leipzig ist inzwischen zu einer Kommunikationsform geworden, die wir in dieser Art in unserem Lande bisher nicht kannten, nämlich mit den Massendemonstrationen durch die Innenstadt. Nun haben aber andererseits auch die Staatsführung, die SED und die Medien der DDR zu neuen Kommunikationsformen gefunden. Doch trotzdem versammelt man sich. Was soll jetzt noch bewegt werden?
Solange das 'Neue Deutschland‘ noch die alte Sprache spricht, werden Menschen auf die Straße gehen. Wir haben uns immer noch nicht abgewöhnt, eine Sprache der Belehrung zu sprechen. Dabei besitzt jeder Bürger unseres Landes durch seine Erziehung eine politische Wachheit und auch ein Einschätzungsvermögen, wie es international ungewöhnlich ist. Solange den Bürgern, auch den Journalisten, kein Raum bleibt für eine eigene Einschätzung der politischen Situation und ihre Meinungen bei wichtigen Entscheidungen gefragt sind, werden die Bürger auf die Straße gehen.
Mit der neuen Veranstaltungsserie „Dialog am Karl-Marx -Platz“ haben Sie am Sonntag Leipziger Bürger zum Dialog ins Gewandhaus eingeladen. Welche Ergebnisse hat dieses erste Treffen gebracht?
Es war ein Beginn, in dem wir ganz komplexe, sozusagen brennende politische Fragen behandelt haben. Also ein normaler Anfang. Ab kommenden Sonntag wollen wir den Themenkatalog mit Spezialveranstaltungen zu aktuellen Fragen auffächern. Bis dahin müssen noch konkrete Vorstellungen erarbeitet werden. Alles, was wir protokollieren und weitergeben an die Staatsführung und an die Führung der SED, soll einfließen in Beschlüsse des nächsten Parteitages der SED, in die Beschlüsse der Volkskammer und so weiter. Doch wir dürfen uns nichts vormachen. Wenn wir hier zusammensitzen - und ich weiß, daß im 'Morgen‘ gewisse Probleme dieser Art angesprochen werden -, dann erreichen wir auch nur einen Bruchteil unserer Bevölkerung. Was unsere Menschen generell brauchen, ist, daß die SED und die Staatsführung eindeutig erklären, wohin es gehen soll. Daß sie beweisen, daß sie in Beschlüssen nicht viel Zeit verstreichen lassen, um sie zu fassen und zu verwirklichen. Das Vorsichherschieben von Entscheidungen hilft uns nicht. Die Bürokratie ist unerträglich, die Neigung, Verantwortung auf den anderen abzuschieben, ist immer größer geworden. Keiner will mehr etwas riskieren, doch wir alle wollen in der Gesellschaft weiterkommen. Deshalb sind Entschlüsse , die uns schnell weiterbringen, notwendig. Nur so kommen wir voran.
In den gegenwärtigen Diskussionen wird von offizieller Seite immer wieder gefordert, die vorhandenen Möglichkeiten besser auszuschöpfen. Doch besonders breiten Kreisen der Jugend genügt dieses Angebot nicht, sie treten deshalb für die Zulassung neuer Gremien ein. Welchen Stellenwert messen Sie diesen neuen Initiativgruppen bei?
Diese Gruppen sind eine neue Art, Dinge zu betrachten, wie sie der Jugend eigen ist. Wir Alten treten eines Tages ab. Doch die zukünftige Generation will ein Leben leben, daß ihr Freude bereitet. Wir können uns nicht anmaßen, Vormundschaft auszuüben. Gerede hilft uns nicht, Mittelmäßigkeit muß überwunden werden. Dafür sollten alle eintreten.
Aus: 'Der Morgen‘ vom 25.10.198
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