: Bundesdeutsche Lebenslüge-betr.: "Sturz und Machterhaltung", taz vom 19.10.89
betr.: „Sturz und Machterhaltung“, taz vom 19.10.89
Hocherfreut berichtet Klaus Hartung, daß die UdSSR zu „phantasievollen Lösungen“ für die „deutsche Frage“ bereit sei. Den Beweis, aber auch das kleinste Indiz, bleibt er schuldig. Das ist bedauerlich, wenngleich verständlich, scheint ein solcher doch kaum möglich zu sein.
Weitaus ärgerlicher ist es, daß er es nicht für nötig hält, das Wiederkäuen der Wiedervereinigungsfloskeln zu begründen. Die Ziele der großdeutschen „Mitteleuropa„-Agitatoren a la Waigel, Schönhuber oder Dregger dürften kaum den Vorstellungen des Kommentators entsprechen. Will er also einen verfassungsrechtlichen Auftrag erfüllen? Ein solcher besteht allerdings nicht, wenngleich Rechtskonstruktionen dieser Art gerne herbeigeredet werden. In der Präambel des Grundgesetzes wird das „deutsche Volk lediglich zur Wiedervereinigung „aufgefordert“. Zurückzuführen ist dieser Anachronismus auf in der damaligen Zeit noch bestehende zwischendeutsche emotionale Beziehungen.
Vielleicht wiederholt Hartung die „Deutsche Einheit„-Phrase somit aus humanitären Gründen? Eine solche Fehldiagnose (Ideal BRD), ein Zusammenhang zwischen Demokratisierung der DDR und großdeutscher Nation, kann leicht widerlegt werden. Ein Blick auf Betroffene zeigt: Keine der Oppositionsgruppen fordert einen Anschluß an die BRD. Im Gegenteil, es soll ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz entwickelt, erstritten werden. Dieser würde sich vom „real existierenden“ Bürokratensystem grundlegend unterscheiden, wäre aber auch kein Schritt Richtung Kapitalismus.
Es ist an der Zeit, endgültig nicht nur de facto (immerhin empfing selbst ein CDU-Kanzler den DDR-Generalsekretär wie einen Staatsgast), sondern auch de jure von der bundesdeutschen Lebenslüge Abschied zu nehmen - und sich mit tatsächlichen außen- und innenpolitischen Fragen zu beschäftigten.
Marcus Schwarzbach, Immenhausen
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