: Ihre einzige Schuld ist, daß sie Iren sind
Die Maguire-Familie wurde 1976 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt / Das einzige Beweisstück war ein unsicherer forensischer Test / Annie Maguire kämpft für Revision ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck
Annie Maguire stammt aus der nordirischen Hauptstadt Belfast. 1957 heiratete sie Paddy Maguire und emigrierte mit ihm nach London, weil es für Katholiken in Nordirland keine Jobs gab. Die Maguires bezogen ein Haus in einem Arbeiterviertel Nord-Londons und traten in die Konservative Partei ein. Paddy Maguire sagt, er habe seine vier Kinder im festen Glauben an das britische Gesellschaftssystem und an britische Gerechtigkeit aufgezogen. Annie hatte gleichzeitig drei verschiedene Jobs als Putzfrau, um die Familie über Wasser zu halten.
Als sie am Abend des 5.Oktober 1974 von den Bombenexplosionen in zwei Kneipen der südenglischen Stadt Guildford in den Nachrichten hörte, ahnte sie nicht, daß diese Anschläge ihr Leben verändern würden. Fünf Menschen kamen damals ums Leben, 62 wurden verletzt. Die Bombenkampagne der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) in England hatte begonnen. Einen Monat später starben zwei weitere Menschen bei einem Bombenattentat in Woolwich. Nachdem der schwerste IRA-Anschlag am 21.November in Birmingham 21 Opfer gekostet hatte, brach in Großbritannien eine anti-irische Hysterie aus: IrInnen wurden an ihren Arbeitsplätzen verprügelt, bei irischen Läden und Kneipen wurden die Fensterscheiben eingeworfen. Die Bevölkerung forderte von der Polizei, die Täter hinter Gitter zu bringen.
Höchstes Strafmaß aller Zeiten
Im Eilverfahren verabschiedete das Parlament den „Prevention of Terrorism Act“, ein Sondergesetz mit weitreichenden Vollmachten für die Polizei, das nur auf IrInnen angewendet wurde. Noch am selben Tag wurde der irische Arbeitsemigrant Paul Hill festgenommen und im Polizeirevier von Guildford vernommen. Nach stundenlangen Verhören „gestand“ er schließlich die Anschläge von Guildford und Woolwich und nannte auch gleich seine „Mittäter“. Gerry Conlon, Patrick Armstrong, Carole Richardson und Paul Hill wurden angeklagt und zu den höchsten Freiheitsstrafen verurteilt, die jemals von einem englischen Gericht verhängt wurden.
Das Urteil basierte einzig auf den Geständnissen der Angeklagten in Polizeigewahrsam, die sie vor Gericht jedoch widerriefen - Geständnisse, die von der Polizeieinheit in Surrey gefälscht worden waren, wie sich in der vergangenen Woche herausstellte. Die „Guildford Four“ kamen vor neun Tagen frei, nachdem sie 15 Jahre unschuldig in britischen Gefängnissen verbracht haben.
Während der Polizeiverhöre hatten die vier Gefangenen aus Angst vor weiteren Mißhandlungen verschiedene Bekannte belastet. Gerry Conlon hatte angegeben, er habe das Bombenbasteln in der Küche seiner Tante Annie Maguire gelernt. Die Polizei stellte das Haus der Maguires im Londoner Stadtteil Kilburn sofort unter Beobachtung. Am selben Tag traf Gerry Conlons Vater Guiseppe aus Belfast ein, um einen Anwalt für seinen Sohn zu besorgen. Guiseppe Conlon war ein schwerkranker Mann: Er litt an einer Bronchialerkrankung und war seit zwölf Jahren arbeitsunfähig. Eigentlich wollte er in London einen anderen Schwager aufsuchen, konnte ihn jedoch nicht erreichen. Das wurde ihm zum Verhängnis. Die Polizei verhaftete alle, die an diesem 3.Dezember 1974 im Haus der Maguires waren: Annie, Paddy und ihre vier Kinder, Annies Bruder Sean Smyth, Guiseppe Conlon und den Nachbarn Pat O'Neill, der seine drei Töchter bei den Maguires abgeben wollte, weil seine hochschwangere Frau im Krankenhaus lag.
Die Hausdurchsuchung blieb ergebnislos. Dennoch nahmen die Beamten Abstriche von den Fingerspitzen der Gefangenen. Die Proben wurden unter Anwendung der Glaschromatographie von einem 17jährigen Praktikanten im Polizeilabor auf Nitoglyzerinspuren untersucht - ein Verfahren, das von dem Wissenschaftler Howard Yallop Ende der sechziger Jahre entwickelt worden war. Das Ergebnis der Untersuchung von Smyth, Conlon und Paddy Maguire war positiv. Ein zweiter Test war nicht mehr möglich, weil der junge Mann die Proben verbraucht hatte. Die Gefangenen beteuerten in den Verhören nach wie vor ihre Unschuld. Annie Maguire berichtet: „Ich mußte stundenlang mit gespreizten Armen und Beinen an der Wand stehen. Jedesmal, wenn ich vor Schwäche umfiel, traten sie mich und nannten mich einen irischen Bastard.“
Hat die Polizei die Spuren selbst gelegt?
Fünf Tage später kamen die Beamten auf die Idee, ein paar Plastikhandschuhe aus dem Schubkasten in Annies Küche auf Sprengstoff zu untersuchen. Sie fanden angeblich Nitroglyzerin - in einer Menge, die einem Millionstel Teil eines Zuckerwürfels entspricht. Der ehemalige Labour -Abgeordnete Christopher Price hält es für möglich, daß die Polizei die Handschuhe selbst kontaminiert hat. Annie nützte jedoch auch ihr wasserdichtes Alibi für den Anschlag von Guildford nichts mehr. Sie hatte an diesem Abend mit ihren Kindern einen Zirkus besucht.
Gleichzeitig mit dem Prozeß gegen die sieben Angeklagten begann in der britischen Presse eine beispiellose Verleumdungskampagne. Annie Maguire wurde als „mörderische Tante Annie“ hingestellt, die ihrem Neffen in ihrer „Bombenküche“ Terrorunterricht erteilt habe. Obwohl sie offenbar gemeingefährlich waren, blieben Annie und ihre beiden Söhne Vincent und Patrick bis zum Prozeßbeginn auf freiem Fuß. Doch Richter Donaldson, der schon die Guildford Four verurteilt hatte, blieb von der Schmutzkampagne nicht unbeeindruckt. Immer wieder griff er in das Verfahren zugunsten der Anklage ein. Als Howard Yallop den forensischen Test, den er selbst entwickelt hatte, als unsicher und für eine Verurteilung unzulänglich bezeichnete, weil andere Substanzen das gleiche Testverhalten wie Nitroglyzerin zeigen würden, wies Donaldson die Geschworenen an, diese Aussage zu ignorieren.
Bis zum Schluß hoffte Annie auf einen Freispruch
Die Behauptungen der Angeklagten, daß sie bei den Polizeiverhören mißhandelt worden seien, konterte Donaldson mit der Frage: „Sehen so Beamte aus, die so etwas tun würden?“ Der Staatsanwalt konnte keine Erklärung dafür geben, wie der Sprengstoff unter den Augen der Polizei angeblich aus dem Haus geschmuggelt wurde. Im gesamten Haus konnten keine Sprengstoffspuren nachgewiesen werden.
Nach zweitägigen Beratungen fällten die Geschworenen ihr Urteil. Es lautete: schuldig. Das Gericht verurteilte die Angeklagten wegen Sprengstoffbesitzes zu Freiheitsstrafen zwischen acht und vierzehn Jahren. Der 13jährige Patrick mußte für vier Jahre ins Jugendgefängnis. Bis zum Schluß hatte Annie geglaubt, daß sich alles als Irrtum herausstellen würde: „Ich wußte doch, daß wir unschuldig sind.“ Auch als ein Jahr später die Londoner IRA-Einheit gefaßt wurde und die Anschläge von Guildford und Woolwich gestand, kamen die Maguires und die Guildford Four nicht frei. Das Gericht erklärte sie kurzerhand allesamt zu Komplizen.
Pat O'Neill, dessen Ehe während seiner Haft in die Brüche gegangen war, findet: „Sie brauchten damals Schuldige. Unsere einzige Schuld war es, daß wir Iren sind.“ Guiseppe Conlon starb vor neun Jahren im Gefängnis. Seine Mitangeklagten mußten ihre Haftstrafen voll absitzen. Annie Maguire wurde im Februar 1985 als letzte entlassen. „Am Schlimmsten war es, daß ich meine Kinder nicht sehen konnte. Das wünsche ich keiner Mutter“, sagt sie. Dennoch haßt sie die Polizisten nicht, die ihr das eingebrockt haben: „Niemand ist unfehlbar. Allerdings habe ich keine Illusionen mehr über britische Gerechtigkeit. Ich werde weiterkämpfen, bis die Wahrheit ans Tageslicht kommt. Es ist nicht so wichtig für mich, sondern für meine Enkelkinder. Vielleicht kommen sie mal in eine ähnliche Situation. Wenn die Polizei dann in den Akten nachsieht und feststellt, daß sie aus einer Terroristenfamilie stammen, sind sie praktisch schon verurteilt.“
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