: Demokratie will erlernt sein
Prof.Manfred Wekwerth, Präsident der Akademie der Künste (AdK) der DDR, informierte im DDR-Fernsehen über aktuelle Diskussionen im Plenum der AdK ■ D O K U M E N T A T I O N
Unser Land durchlebt dramatische Augenblicke eines endlich in Gang gekommenen und von Tag zu Tag sich beschleunigenden geschichtlichen Wandelns, zu dem auch die AdK und seit langem die Zeitschrift 'Sinn und Form‘ beigetragen haben. In so einer Lage ist es nicht leicht, über ein Ereignis zu berichten, das sieben Tage zurückliegt, ohne den Eindruck eines schlafenden Reporters zu hinterlassen, und ein Ereignis war diese Sitzung. Über vier Stunden leidenschaftlich geführte, erregend verlaufende, rückhaltlos offene Aussprache, mehr als dreißig Wortmeldungen; in jeder Befürchtung, Hoffnung, Forderung, aber auch Mißtrauen. Eine der Forderungen zum Beispiel, die nach Wiederzulassung des 'Sputniks‘, ist bereits von den Nachrichten gemeldeter Entschluß. Der Postminister, war zu lesen, habe es sich anders überlegt. Dazu gratuliere ich ihm. Aber wäre hier nicht eine gute Gelegenheit gewesen, offen einen Fehler einzugestehen und eine Selbstkritik an dem für alle unverständlichen Verbot zu üben?
Ganz bestimmte Dinge müssen überhaupt erst an die Öffentlichkeit. Zwei will ich hier nennen, die auf unserer Plenartagung eine Rolle gespielt haben. Zum einen die Forderung, den ehemaligen Leiter des Aufbau-Verlages, den von uns hochgeachteten Walter Janka, Spanienkämpfer, Kommunist seit 1930, der 1957 in einem ideologischen Schauprozeß zu Unrecht zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt war, nun öffentlich zu rehabilitieren und sein biographisches Buch auch bei uns zu drucken. Zum anderen mit Nachdruck die Frage, ob die im Oktober 1988 gegen heftigste Proteste durchgesetzte Relegierung mehrerer Schüler der EOS „Carl v.Ossietzky“ in Berlin-Pankow, die in bis dahin für unsere Schulen ungewöhnlicher Weise ihr Recht auf selbständige politische Meinungsäußerung an der Schülerwandzeitung wahrgenommenen hatten und dafür bestraft wurden, nicht rückgängig gemacht werden sollte.
Aber es ging auf der Sitzung der Akademie nicht nur um Forderungen. Forderungen, die notwendigerweise gestellt werden müssen, weil die Dinge, auf die sie sich richten, eine moralische Belastung darstellen, die man loswerden muß, um ins Freie eines besseren Gewissens zu kommen. Manche solcher und ähnlicher Sachverhalte - oder Fälle, wie das heißt - werden noch zu erörtern, werden noch zu bereinigen sein.
Wie gesagt, nicht nur Forderungen, den wesentlichsten Inhalt der Debatte bildeten bestimmte Befürchtungen, Hoffnungen und Gedanken. Wir stehen alle inmitten einer für uns vergleichslosen Ursprungssituation geschichtlichen Wandelns. Es ist der Beginn eines Umbruchs, worin Krise und Aufbruch sich wechselseitig erzeugende Momente eines dramatisch vorwärtstreibenden Widerspruchs sind. Etwas endet, und anderes beginnt. Das ist das Wesen der augenblicklichen Situation und zugleich der allgemeine Inhalt unseres Gefühls. Vielleicht gab es auch Angst, die uns gelähmt, und eine Empfindungslosigkeit, die viele blockiert hat. Und nicht zuletzt ein ohnmächtiges Gefühl der Bevormundung und der Entmündigung durch das Fehlen der Kontrollmöglichkeiten von unten. Auch wenn Vernünftiges sich dann und wann durch Gnadenakte durchsetzen konnte, macht das nicht froh. Was beginnt, ist unser Mut, neue Energie, hieraus quellen alle Hoffnungen und Befürchtungen.
So ist es im Lande, so war es auch während der Sitzung der AdK. Wenn es die Ziele sind, die in unserer Hoffnung aufleuchten, so ist es andererseits die Gefahr, die sich in unseren Befürchtungen kundtut. Vor allem vor Euphorie sollten wir uns hüten. Wir sollten in Zukunft sehr feine Ohren haben für neue und alte Töne, vor allem für alte, die sich für neue ausgeben. Sicher, wir werden nach dem Vertrauensverlust eine Zeitlang damit leben müssen, daß man den Maßnahmen der Partei nicht traut. Schlimm aber wäre es, wenn sich die eingeleitete Politik der Offenheit und der Öffnung als eine geschlossene Kampagne erweisen sollte. Einfach, weil bisher zu vieles als Kampagne endete. Wir wollen daher hellhörig sein, so etwas schleicht sich leicht durch die Hintertür wieder herein. Die größte Gefahr der gegenwärtigen Lage ist die Möglichkeit der Gewalt. Wir erleben spontane Straßendemonstrationen noch nie gewesenen Ausmaßes. Sie haben nach meiner Meinung viel bewegt. Jeder Akt von Gewalt aber, jedes Verhalten, das sie provoziert, sei es von unten sei es von oben, vernichtet die Chance der historischen Stunde. Gewaltfreiheit aller Seiten ist oberstes Gebot, heute und morgen. Friedfertigkeit des veränderungswilligen Handelns ist absolute Bedingung des Gelingens. Deshalb hat das Plenum der Akademie den Beschluß gefaßt, in einem offenen Brief an den Präsidenten der Volkskammer die sofortige Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission zu fordern, die die Aufgabe hat, zur öffentlichen Aufklärung einer Reihe durch Augenzeugen belegter Gewalttätigkeiten beizutragen, bei denen es in verschiednen Städten der DDR zu Übergriffen gegenüber Demonstranten und Unbeteiligten durch Sicherheitskräfte gekommen war.
Es wurde auf unserer Akademietagung auch noch einer anderen Befürchtung Ausdruck gegeben. Sie betrifft die neue Offenheit, den Dialog, den Streit, der gerade auflebt. Alle, die mit Leidenschaft teilnehmen an der großen Aussprache im Lande, sollten darauf achten, daß das Diskussionsklima produktiver bleibt, also nicht ausschließlich von aufgestauten Emotionen, Zorn und Kränkungen beherrscht wird, obwohl sie verständlich sind. Es bedarf analytischer Erörterungen. Wir brauchen Kraft und Klarheit der Argumente, vor allem brauchen wir ein Gefühl der Verantwortung. Dann entsteht wirklicher Reichtum an fruchtbaren Gesichtspunkten, erhellende Pluralität der Aussichten, kommen schließlich konzeptionell durchdachte Änderungsvorschläge, ohne die wir nicht einmal befestigen können, was sich schon zum besseren gewandelt hat. Es ist die Fähigkeit, andere Meinungen zu ertragen und zu erfragen. Demokratie will nicht nur proklamiert, sie will erlernt sein, nach Jahren der Enthaltsamkeit. Vor allem das Schwinden kollektiver Führung, das sich in einsamen Entscheidungen äußerte, muß einer kollektiven Offenheit oder einem offenen Kollektiv weichen, das niemand für sich selbst allein in Anspruch nehmen kann.
Und damit komme ich an den Punkt unserer Hoffnungen. Beginnen wir mit den verändertem Selbstgefühl. Wir haben den Kopf, als wäre ein durchschlagendes, kollektives Gelähmtsein, das uns befallen hatte, endlich von uns gewichen. Schon erscheint es unbegreiflich, das wir uns dieser Gebücktheit nicht zu erwehren vermocht hatten. Und doch war es so. Jahre lang. Jetzt hat der Horizont sich aufgehellt. Es geht ein guter Wind, wir atmen tiefer und freier. Aber es wäre ein alter Ritus, die Änderungen wieder nur dem Plenum des neunten ZK zu danken. Diese Gefühle, Gedanken, Vorschläge waren seit langem unter der Bevölkerung. Sie wurden viel zuwenig gehört. Unsere Hoffnung ist, es möge uns auf deutschem Boden eine sozialistische Reformation gelingen. Eine Erneuerung der DDR an Haupt und Gliedern aus dem ursprünglichen Geist sozialistischer Botschaft. Mehr Sozialismus, mehr Demokratie, das ist die Parole der sowjetischen Umgestaltung, dies sei auch die Losung der Umgestaltung bei uns. Endlich, um Jahre zu spät, die Erkenntnis, daß wir von der Sowjetunion die Umgestaltung lernen werden und müssen. Vielleicht können wir demnächst auch auf die Übersetzung verzichten und von Perestroika sprechen, schließlich sagen wir ja auch „Sowjetunion“ und nicht „Räteunion“. Dazu brauchen wir eine grundlegende Erneuerung des Marxismus und aller seiner alten und neuen Quellen, die ihn beleben. Ohne geistig kraftvollen Marxismus gelingt nicht einmal der Ansatz einer Reform, die sozialistische Reform sein will. Wir müssen den Marxismus wiedergewinnen als eine kritische Methode geschichtlich -sozialer Analyse, als intellektuelles und moralisches Organon eines emanzipatorischen Aufbruchs, als Freude am modernen Denken. Ich kenne von Wissenschaftlern mindestens sechs Konzeptionen des modernen Sozialismus in der DDR. Geschrieben im Auftrag der Partei, landeten sie in den letzten Jahren im Panzerschrank. Wir sollten ihn, den Panzerschrank, im Interesse des Überlebens, öffnen. Dahin geht unsere Hoffnung. Hoffnung und Wünsche, sagt Goethe, sind Vorgefühle jener Fähigkeiten, die in uns liegen. Vielen Dank.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen