piwik no script img

CSSR - Bastion des Breschnewismus

■ Prager Regierung hält unbeirrt am orthodoxen Kurs fest / Demonstranten fordern „andere Regierung“

Reformbemühungen in anderen Bruderstaaten beeindrucken die Regierung der CSSR in Prag wenig. Mit einer feierlich inszenierten Rekrutenvereinigung gedachte die alte Garde am 71.Jahrestag der Staatsgründung der tschechoslowakischen Republik. Das Volk allerdings mußte brutal in Schach gehalten werden. Die Demonstration von über 10.000 Menschen wurde brutal aufgelöst, über 355 festgenommen

Am 28.Oktober 1918 schoben sich Hunderttausende durch die Prager Innenstadt. Tausende Menschen tanzten vor Freude in der goldenen Stadt, und auf dem Wenzelsplatz sprang eine weißhaarige Frau von der Straßenbahn, lief schnell, aber bestimmt auf einen Polizisten zu und riß ihm unter Beifall der Passanten seine K.u.K.-Amtszeichen von den Schulterklappen und der Mütze seiner Uniform. Die tschechoslowakische Republik war geboren. Am Samstag drehte sich in Prag das Bild um. 71 Jahre danach schlagen Polizisten in der nun sozialistischen Republik auf das Volk ein, auf Menschen, die friedlich die Nationalhymne singen. Ist das Fortschritt oder das Ende der Republik? Der Mann, der das fragt, hat beide Ereignisse erlebt. Als Elfjähriger die Freude über die Republik und am Samstag als 82jähriger die Demütigung eines Volkes. Er ist entsetzt. Angefangen hatte das Drama am 71. Republik-Geburtstag schon am Freitag abend. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich spät abends in den Kneipen und Weinlokalen die Nachricht, daß der kranke, hochfiebrige Havel von der Polizei aus dem Krankenhaus entführt wurde. Kleine Spontandemonstrationen bildeten sich, verliefen sich und kamen wieder zusammen. Es lag ein Hauch von Demonstrationshast über der Stadt. Zivilspitzel und Polizei in Uniform übten mit kleinen Verhaftungen für den Samstag. Als am Samstag vormittag auf dem Wenzelsplatz vor den zusammengezimmerten Holztribünen Raketen, Panzer, Soldaten und die Arbeitermiliz der Prager Führung Männchen machten, waren sie alle auf ihrem Posten. Kein Ort in der Stadt, der nicht von den Grüppchen in Zivil oder in Uniform überwacht wurde. Der Prager Altstadtplatz wurde sogar von Spitzeln aus einem Wohnhaus heraus flächendeckend gefilmt. Schon kurz nach elf Uhr war der Wenzelsplatz wieder frei für Begehung, die Parade beendet. Bautrupps machten sich sofort an die Demontage der Tribünen. Zwei Stunden später schon begann sich der Platz mit über zehntausend Menschen zu füllen, die Dubcek, Svoboda und Freiheit riefen. Im Dreivierteltakt klatschte die Masse immer lauter, bis ihre Rufe nicht mehr deutlich zu hören waren. Immer mehr Leute kamen dazu, bis plötzlich um halb drei der Platz dichtgemacht wurde. Über hundert Mannschaftswagen zogen sich in den Straßen zusammen, in Bussen und fensterlosen Kleintransportern wurden schwer behelmte Polizisten herangefahren und kesselten die Menschen ein. Auf dem Wenzelsplatz standen sich Volk und Polizei gegenüber. Die Menschenmasse stimmte die Nationalhymne an, als der Einsatzbefehl kam. Die Polizeitruppen schlugen auf dem Platz wild zu. Das Bild glich dem Berliner Kessel während der IWF -Tagung im letzten Jahr. Mit hemmungsloser Brutalität gingen Zivilpolizisten in die Schlacht. Sie rissen einige Menschen an den Haaren zu Boden und schlugen sie mit dem Gesicht auf den Asphalt und traten ihnen in die Nieren, bis sie abgeführt wurden. So wurde der Platz geräumt und blieb fortan bis etwa halb sieben menschenfrei. Die Menschen auf dem Platz waren entsetzt. Eine alte Dame weinte und echauffierte sich gegen die Schweinebande um Jakes, die den Krieg mit dem Volk wolle. Die Demonstranten, die den Kessel ohne Verhaftung und Verletzung verlassen konnten, sammelten sich und zogen, einer Prozession gleich, klatschend durch die Altstadt, immer weg von der Polizei. Noch immer klatschten die Menschen im Dreivierteltakt und skandierten „Laßt Havel frei“ und „Wir wollen nicht Jakes, wir wollen nicht Stepan“, den Prager Stadt-Parteichef und „Dubcek, Dubcek“ und „Svoboda, Svoboda“. Wo immer der Zug vorbeikam, fielen am Straßenrand beobachtende Passanten klatschend ein und riefen nach dem alten 68er-Präsidenten Svoboda und seinem Parteichef Dubcek. Immer wieder kam die Gruppe von etwa 5.000 bis 7.000 Menschen auf dem Platz der Republik zusammen und stimmte die Nationalhymne an. Dann wieder Stille, eine Beklommenheit zog über den Platz, Tränen der Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit liefen vielen über die Wangen. Während der Zug sich erst gegen 22 Uhr langsam auflöste, avancierte der Polizeieinsatz zum Stadtgespräch. In den Seitengassen standen Tschechen und erklärten Touristen ihre Lage. „Wissen Sie“, sagt eine Dame in weißen Handschuhen, „die Menschen in der Regierung sind dumm. Sie sind so dumm, ihre Mutter ist die Partei, an der hängen sie wie Säuglinge.“ Auch über die Polizisten hörte man immer wieder, das seien dumme Menschen ohne Bildung. „Aber sie werden sehr, sehr gut bezahlt, damit der Staat über eine große Polizei verfügen kann.“ In den Kneipen ging es hoch her. Spitzel nippten beklommen an ihrem Bier, während über die Tische hinweg der Sinn und Unsinn des Einsatzes diskutiert wurde. Dann ging die Diskussion zu Reformen über. In welche Kneipe man auch kam, überall das gleiche Bild. Und doch fehlt da noch der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Noch blieben viele Menschen am Rande stehen, sahen dem Zug hinterher und konnten sich nicht zum Mitlaufen entschließen. „Es ist ja so“, sagt mir ein Bergarbeiter, „daß wir mehr zu verlieren haben als nur die Freiheit. Wir haben auf Kosten des Staates einen Lebensstandard erreicht, von dem Ungarn und Polen nur träumen können. Dafür durften diese Verbrecher Politik machen. Ich glaube doch nicht daran, daß wir uns öffnen können, das endet wie 1968.“ Anders dagegen die Demonstrationsteilnehmer. Bei ihnen ist die Stimmung zwar sehr unterschiedlich, aber es heißt jetzt oder nie. Die einen laufen in einem Überschwall von Emotionen mit, lassen endlich ihrer Wut Luft, andere wollen ein Dresden erreichen, wie sie es nennen. Täglich sollen es mehr werden. Schon bald, so hofft man, können 300.000 bis 500.000 Prager den Männern im Hradschin zeigen, wie begrenzt ihre Macht ist. Erstaunlich identisch erscheinen die Aussichten, die die Menschen für eine zukünftige Politik haben. Das mit der führenden Rolle der Partei können sie sich abschminken. Ein zweites 68 werden sie nicht zulassen, sagt einer. Fast alle, mit denen ich gesprochen habe, wollen auf die bürgerliche Demokratie zurückgreifen, in der Sozialisten das Sagen haben und nicht Kommunisten. Und da es noch keine gefestigte Oppositionsstruktur gibt, erscheint es vielen wünschenswert, die Blockparteien endlich wieder zu selbständigen, streitbaren Einheiten zu entwickeln mit eindeutigen Profilen. Schwierigkeiten bereitet noch immer der Bruderzwist zwischen Tschechen und Slowaken in dieser Diskussion. Die Konföderation könnte bei einem solchen Wandlungsprozeß ins Wanken geraten.

„Die Slowaken werden vielleicht nicht auf die Kommunisten verzichten, von denen sie schließlich eine Menge vermeintlichen Reichtums erhalten haben“, sagt ein Diskutant. So erscheint einem anderen Diskutanten eine Vision möglich, in der sich die Tschechen eher ähnlich Polen organisieren. Dagegen könnte in der Slowakei ein Reformkommunismus a la Jelzin in der UdSSR und Pozsgay in Ungarn angestrebt werden.

Klar ist aber allen, daß man hinter Ungarn nicht zurückstehen will und deshalb schon die sozialistische tschechoslowakische Republik zu Grabe tragen werde, um die Republik auszurufen.

Florian Bohnsack

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen