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„Freie Wahlen jetzt - nicht 1991“

■ Eine Welle von Demonstrationen und Dialog-Veranstaltungen schwappte am Wochenende durch die DDR / Vor Berlins Rotem Rathaus: Schweigeminute für die Toten an der Mauer / Die DDR-Opposition ist sich uneins: Wie hältst Du's mit der Führungsrolle der SED?

Berlin (dpa/ap/afp/taz) - Erneut haben in der DDR Zehntausende von Werktätigen das Wochenende überwiegend auf der Straße verbracht und den Dialog mit SED-Größen gesucht. Allein in Ost-Berlin kamen gestern mehrere tausend Menschen zu einem Stadtgespräch unter dem Motto „Offene Türen Offene Worte“, wo sich Vertreter der SED-Führung vor dem Roten Rathaus mit wechselndem Erfolg Fragen und Kritik stellten. SED-Politbüromitglied Günter Schabowski beteiligte sich an einer Schweigeminute für die Toten an der Mauer und formulierte unter großem Beifall: „Die Demonstration wird zur politischen Kultur in Berlin gehören.“ Die DDR-Behörden genehmigten eine für den 4.November geplante Demonstration in Ost-Berlin, zu der Hunderttausende erwartet werden.

In Dresden, Leipzig, Magdeburg, Plauen, Erfurt, Jena, Neubrandenburg und Rostock wurden seit Freitag zum Teil hitzige Diskussionen mit kommunalen SED-Vertretern geführt. In mehreren Städten demonstrierten insgesamt 60.000 für Demokratisierung, Reisefreiheit, Öffnung der Presse, Abbau des Verwaltungsapparates, die Einrichtung eines zivilen Ersatzdienstes und sichtbare Verbesserung des Lebens. Unter dem Motto „Wider den Schlaf der Vernunft“ hatten sich am Samstag in der Ostberliner Erlöserkirche Künstler und Wissenschaftler zusammengefunden.

Die TV-Propaganda-Sendung Der schwarze Kanal wurde von dem stellvertretenden Chefredakteur der Aktuellen Kamera Ulrich Makosch „als nicht mehr zeitgemäß“ bezeichnet. Gleichzeitig sagte Makosch am Wochenende zu, dem Staatlichen Komitee für Fernsehen eine Alternative vorzuschlagen: ein Magazin über Umwelt und die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten.

In den verschiedenen DDR-Oppositionsgruppen herrscht nach wie vor Uneinigkeit über die künftige Rolle der SED. Der mit Berufsverbot belegte Anwalt Rolf Henrich, Mitbegründer des „Neuen Forum“, will die führende Rolle der SED nicht in Frage stellen. Die Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ verlangte dagegen einen Volksentscheid über den Führungsanspruch der Einheitspartei. Henrich setzte sich zudem für eine öffentliche Kontrolle des DDR -Staatssicherheitsdienstes (Stasi) ein, der sich künftig aus den innenpolitischen Konflikten völlig heraushalten müsse.

Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) äußerten im DDR-Fernsehen harte Kritik am Vorsitzenden des DDR -Gewerkschaftsbundes FDGB Harry Tisch. Tisch, der auch Mitglied des Politbüros ist, reagierte darauf mit der Ankündigung, er wolle an diesem Montag im Führungsgremium der Gewerkschaft die Vertrauensfrage stellen und gegebenenfalls zurücktreten.

Ungeachtet der Entwicklung kamen bis Sonntag mittag wieder über 600 DDR-Bürger über Ungarn in den Westen. Der Arbeitskräftemangel in der DDR hat mittlerweile katastrophale Versorgungsengpässe verursacht. Jetzt sollen Überlegungen angestellt worden sein, Angehörige der Nationalen Volksarmee auf den am heftigsten betroffenen Stellen einzusetzen.

bg

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