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FDGB-Tisch rettet sich in zweite Runde

■ Der Gewerkschaftsvorsitzende hatte die Vertrauensfrage gestellt / FDGB-Vorstand entscheidet erst am 17. November - eine Woche nach der Tagung des SED-Zentralkomitees / Wieder 300.000 Demonstranten in Leipzig: Gegen das Macht- und Wahrheitsmonopol der SED

Berlin (ap/dpa) - Der Vor sitzende des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB, Harry Tisch, hat es noch einmal geschafft. Tisch hatte nach massiver Kritik vor allem junger Gewerkschafter in den DDR-Medien gestern auf einer Vorstandssitzung die Vertrauensfrage gestellt. Der FDGB-Bundesvorstand vertagte am späten Nachmittag die Sitzung auf den 17. November - dann soll über Tischs Verbleiben im Amt abgestimmt werden. Harry Tisch habe zu bedenken gegeben, ob diese Verschiebung dem FDGB nicht eine zu große Last auferlege. Erst auf Drängen der Journalisten, so die Aktuelle Kamera, sei die Presse zugelassen worden.

In der Sitzung des FDGB ging es um Fragen, wie die größte Massenorganisation der DDR mit 9,6 Millionen Mitgliedern „an der Wende teilhaben“ könne und ihre Rolle als „Interessenvertreter ihrer Mitglieder“ konsequenter wahrnehmen könnte. Noch im September hatte sich Harry Tisch bei einem Besuch in der BRD als strammer Vertreter aus der Hauptabteilung „Ewige Wahrheiten“ hervorgetan. Die Aufforderung westdeutscher Kollegen, den Kurs in der DDR zu ändern, schmetterte er ab: „Nicht der Nachbar soll bestimmen dürfen, was man für Möbel aufzustellen hat.“

In Leipzig demonstrierten am Montag abend mehrere hunderttausend Menschen für demokratische Reformen. Auch aus anderen Städten der DDR wie Schwerin wurden Demonstrationen gemeldet. Der Protestzug in Leipzig formierte sich gegen 18.30 Uhr in der Innenstadt und zog zum Hauptbahnhof. In der kaum übersehbaren Menschenmenge waren Transparente zu sehen, auf denen unter anderem „Freie Wahlen - Volksregierung“ gefordert wurde. Auch hieß es: „SED, wir sind bereit für einen echten Volksentscheid“. In Sprechchören wurde immer wieder gerufen: „Wir sind das Volk“ und „Schließt Euch an, schließt Euch an“. Auf Plakaten waren Stimmzettel für die Oppositionsbewegung „Neues Forum“ und die Sozialdemokratische Partei (SDP) gemalt. In einer Live -Schaltung berichtete auch die DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera von der Demonstration in Leipzig. Der Reporter schätzte die Zahl der Demonstranten auf rund 300.000 - wie bereits am vergangenen Montag. Fortsetzung auf Seite 2

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Während der Demonstration wurde auf Handzetteln auch der Aufruf zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft „Reform“ verteilt. Darauf wurde die Mitbestimmung in den Betrieben sowie das Streikrecht und die Aufhebung aller Reisebeschränkungen gefordert. Die Sicherheitskräfte ließen sich kaum sehen, nur einige Polizeiwagen standen an den wichtigsten Kreuzungen. „Stasi in die Produktion“, riefen die Demonstranten, als sie daran vorbeikamen.

Egon Krenz fliegt heute zu einem zweitägigen Besuch nach Moskau, um sich mit Michail Gorbatschow zu treffen. Vor Absolventen von Militärakademien des Warschauer Paktes hatte Krenz am Montag gesagt, die SED habe sich „an die Spitze der Bewegung für eine qualitative Wende in der Gesellschaft“ gestellt. Diese Wende sei „keine Abkehr vom Sozialismus“, sondern „eine bewußte Erschließung seiner Möglichkeiten“.

Die Leitung des DDR-Volksbildungsministeriums hat eine Prüfung

der Ergebnisse des 9. Pädagogischen Kongresses, der vor einigen Monaten stattfand, angekündigt. In der adn-Meldung wird nur von der Leitung des DDR-Volksbildungsministeriums gesprochen, Ministerin Margot Honecker wird nicht namentlich erwähnt.

Aus Ost-Berlin wurde gestern gemeldet, bis spätestens 1. Mai 1990 solle die Partei „Demokratischer Aufbruch - sozial, ökologisch“ (DA) gegründet werden. Die 200 Delegierten aus verschiedenen Bezirken der DDR wählten den Rostocker Rechtsanwalt Wolfgang Schnur zum Vorsitzenden. Die DA bemühe sich um eine enge Zusammenarbeit mit allen demokratischen Organisationen, Parteien und ökologischen Gruppierungen in der DDR. In ihrer vorläufigen Grundsatzerklärung heißt es, eine demokratische Republik erfordere die Trennung von Staat und Parteien. Der Staat könne sich nicht auf den Wahrheitsanspruch einer Partei gründen. Grundsätzlich befürworte man ein Mehrparteiensystem auf der Basis inhaltlicher Alternativen.

Ausdrücklich betont der Entwurf die Zweistaatlichkeit Deutschlands.

Wirtschaftspolitisch plädiert die Gruppierung dafür, Staatseigentum auf die Großindustrie zu beschränken. Der Plan könne nur noch einen allgemeinen Rahmen für wirtschaftliches Handeln abstecken.

Von einer Veranstaltung in Karl-Marx-Stadt berichtete die DDR-Agentur 'adn‘, ab nächstem Jahr sei die Freigabe aller Umweltdaten in der DDR vorgesehen. Außerdem plane man eine Smogverordnung für die Städte.

Nach Aussagen Walter Mompers, der sich am Wochenende mit dem SED-Politbüromitglied Günter Schabowski und dem Ostberliner Oberbürgermeister Erhard Krack getroffen hat, sollen DDR-Bürger bereits ab Dezember völlige Reisefreiheit erhalten. Noch in den nächsten Tagen werde ein Gesetz vorgelegt, über das dann öffentlich diskutiert werde. Außerdem, so Momper, wird die DDR den Straftatbestand der Republikflucht streichen.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hans Büchler hat die Einsetzung einer deutsch-deutschen Kommission vorgeschlagen, die sich angesichts der von Ost-Berlin angekündigten Reisefreiheit zunächst mit dem

Geldwesen und dem Besucherverkehr befassen sollte. Letzten Endes sei es notwendig, die Konvertierbarkeit der beiden deutschen Währungen durch konkrete Vorschläge an die politischen Entscheidungsträger praktikabel zu machen, erklärte der deutschlandpolitische Sprecher der SPD-Fraktion am Montag in Bonn.

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