: Gerettet durch Trinken und Rauchen
■ Die Wiederbelebung des Jazzfestes und des „Total Music Meetings“ in der Philharmonie / Nur wenige musikalische Leckerbissen / Hausmannskost überwiegt
„Entgegen allen bisherigen Gerüchten: das Jazz-Fest ist so lebendig wie nie zuvor.“ So die Festspiele GmbH Anfang Oktober, nachdem ihr die Gelder fürs Jazzfest vom Innenministerium zusammengestrichen worden waren. Unmittelbare Folge des „Sparetats“ von 800.000 Mark ist der komplette Wegfall des Delphi-Programms. In diesem Jahr sind dementsprechend weniger Bands zu erwarten, die den Opernrahmen der Philharmonie mit sperriger Musik sprengen. Für Unerschrockene seien hier einige der zu erwartenden Gruppen ausführlicher erwähnt. Vorher aber, und das wollen wir ab heute nie mehr vergessen, sei den Sponsoren gedankt, besonders der Nahrungsmittelindustrie. Der Hersteller einer leckeren Dunkelbierspezialität hat nicht nur das Jazzfest gerettet, sondern fand auch: „Jazz ist Ausdruck spontaner Lebensfreude und Kreativität in der Musik. Jazzliebhaber sind in der Regel Individualisten und lieben die gesellige Pubatmosphäre.“ Und zum Bier rauchen sie ein Zigarettchen aus dem Hause Philip Morris, weshalb den Abschluß des Jazzfestes am Sonntag die Philip Morris Superband bestreitet. Nicht mit der Marlboro Superband zu verwechseln. Der Kippenkonzern hat es im Kampf um die Gunst der Kunstliebhaber sogar zu einer speziellen Organisation, dem Philip Morris Jazz Grant gebracht, dessen Präsident Andrew Whist versichert, daß „Gewinne der weltweiten Jazz -Promotion zugute kommen“.
Schwerpunkt des Festivals in diesem Jahr sind Vokalgruppen der verschiedensten Zusammensetzungen. Vom weißen a capella -Chor New York Voices über ihre schwarzen Kollegen Take 6 bis zum niederländischen Greetje Bujma Kwintet, deren Namensgeberin mit Shelley Hirsch bei New Yorker Theater- und Fernsehproduktionen mitwirkte.
Besonders zu erwähnen ist dabei das heutige Eröffnungskonzert in der Philharmonie. Die Sängerin Abbey Lincoln kämpfte laut Gruntz schon in den Sechzigern gemeinsam mit (oder gegen?) Max Roach für Frauenrechte, auch auf der Bühne. Lincoln alias Aminata Moseka, die in der US -Presse als „militant“ gehandelt wird, sagt über ihr Selbstverständnis als schwarze Frau: „I have never been political. I am social. I live here.“
Weitere Schwerpunkte setzen der Neo-BeBop-Trompeter Wynton Marsalis und verschiedene junge Musiker, die im Background des BeBop arbeiten und von Gruntz als „Aktualitäten“ angepriesen werden. Darunter mindestens einer, für den es sich lohnt, am Samstag die heilige Philharmonie zu erklimmen - der Tubist Bob Stewart und seine First Line Band. Stewart ist einigen wahrscheinlich noch bekannt aus Lester Bowies Brass Phantasie, in der die voluminösen Tubatöne, wie in den frühen Big Bands üblich, die Bassrolle übernehmen. Ferner im Angebot die Leni Stern Band, deren Gitarristen Stern und Wayne Krantz vor einigen Monaten im Quasimodo als Duo süßlich verzierte, aber auf die Dauer recht klebrige Melodiebonbons servierten.
Die Gruppen riechen in diesem Jahr verschärft nach Hausmannskost, viel guter Geschmack - wenig Innovation. Dagegen hilft der FMP-Nachmittag, der anläßlich des 20jährigen Jubiläums des Berliner Labels für improvisierte Musik im Kammermusiksaal stattfindet. Mit dabei Tom Cora und Hans Reichel im Duo, Peter Kowald allein mit seinem Bass, Julie und Keith Tippett mit Maggie Nichols als Trio, und als viertes Konzert am Sonntag der Altmeister der FMP, Peter Brötzmann, im Gefecht mit Jay Oliver, Willi Kellers und Manfred Schoof.
Trotz Finanzsiechtums und Beinahe-Exitus im letzten Jahr ist das „Total Music Meeting“ immer noch die kleinere, aber dafür meist auch interessantere Veranstaltung parallel zum großen Jazzfest. Cecil Taylor wagt den dritten Schritt in diese Stadt, nach seinem vierwöchigen Workshop- und Konzertaufenthalt 1988 in Berlin. Den Third Stop -Konzertzyklus eröffnete der Derwisch des Pianos gestern mit einem Solo, es folgt das Feel Trio, und am Freitag und Samstag im Quartier Latin das neue Taylor Quartet Corona.
Und hier kann man dann während des Konzerts gemütlich Rauchwaren und Biere der verschiedensten Firmen zu sich nehmen, was in der Philharmonie strengstens untersagt ist. Dort wird nur dafür geworben, damit es auch im nächsten Jahr wieder heißt: „Guinness is good for you!“ (ich hab‘ mich schon die ganze Zeit gefragt: wann kommt's denn nun endlich? Und nochmal: wieviel kriegen wir dafür? d. s.in)
Andreas Becker
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