: Die DDR übt sich in Reformeifer
■ Verbot des Neuen Forums soll überprüft werden / Gewerkschaftshochschule empfiehlt unabhängige Gewerkschaften / Für den SED-Bezirkschef von Neubrandenburg könnte die Mauer zur Disposition stehen / Justizminister kündigt neuen Fluchtparagraphen an
Berlin/Moskau (afp/ap/dpa/taz)- „Die Losung 'Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen‘ hatte ihren historischen Platz und hat heute neuen Sinn bekommen. Wir lernen, wie unsere sowjetischen Freunde die Umgestaltung meistern, und wir lernen auch davon, was ihnen nicht gelungen ist.“ Mit diesen Worten begrüßte der neue SED -Generalsekretär Egon Krenz die sowjetischen Genossen bei seiner Ankunft in Moskau. Gleichzeitig umschrieb er mit der seit drei Jahren aus dem offiziellen Politkanon der SED getilgten Losung - unfreiwillig? - die sich in Richtung Reform überstürzenden Entwicklungen in der DDR.
Wie die DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘ meldete, könnte die oppositionelle Gruppierung Neues Forum nun doch eine Chance erhalten, legalisiert zu werden. Derzeit prüfe das Innenministerium einen Einspruch gegen die Entscheidung, die Oppositionsgruppe nicht zuzulassen. Der Fraktionsvorsitzende der Ost-CDU, Wolfgang Heyl, hatte das Innenministerium aufgefordert, den ablehnenden Bescheid rückgängig zu machen. Auch der SED-Bezirkschef Ost-Berlins, Günter Schabowski, äußerte sich mit ähnlicher Tendenz gegenüber der Düsseldorfer 'Wirtschaftswoche‘: Die Partei könne „einen Club, der Sprachlosigkeit überwinden“ helfe, akzeptieren. Ob die SED allerdings das NF als Oppositionsgruppierung anerkennen werde, könne er noch nicht sagen: „Ich allein kann das nicht entscheiden. Das setzt einen Meinungsbildungsprozeß in meiner Partei voraus.“
Nachdem gestern abend überraschend der Vorsitzende des DDR -Gewerkschaftsverbandes, Harry Tisch, nach massivem Druck der Basis seinen Rücktritt angekündigt hatte, legte gestern die Gewerkschaftshochschule „Fritz Heckert“ ein Papier vor, in dem es heißt, „die Wende in der DDR ist nur mit freien, starken, eigenständigen Gewerkschaften möglich“. Das Papier, das in der FDGB-Zeitung 'Tribüne‘ gestern veröffentlicht wurde, fordert weiter, man müsse Schluß machen mit „dem rapiden Autoritätsverfall dieser bedeutenden Massenorganisation“. Schließlich gehe es um „die Rettung und Bewahrung der Einheitsgewerkschaften als wirkliche Vertreter der Werktätigen“. Außerdem seien „gesetzliche Regelungen für gewerkschaftliche und staatliche Organe im Konfliktfall einschließlich Arbeitsniederlegung“ notwendig. Neben einer neuen Konzeption gewerkschaftlicher Pressearbeit wird auch die Einberufung eines au Fortsetzung auf Seite 2
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ßerordentlichen FDGB-Kongresses im kommenden Frühjahr verlangt, der eine „neue Qualität innergewerkschaftlicher Demokratie“ bringen und das „Berichtsunwesen beseitigen“ soll. In der Gewerkschaft müsse sich jetzt das „Kompetenzprinzip“ durchsetzen.
Bei seinem Besuch in der BRD zeigte sich der Neubrandenburger SED-Bezirkschef Johannes Chemnitzer davon überzeugt, daß weite Teile seiner Partei den Reformprozeß in der DDR mittragen. Aus biologischen und politischen Gründen werde es an der SED-Spitze auch noch weitere Veränderungen geben. Auf die Frage, ob möglicherweise die Mauer nun zur Disposition stehe, meinte Chemnitzer „sicher“, verwies gleichzeitig aber darauf, daß die DDR beim geplanten neuen Reisegesetz die Sicherung einer ord
nungsgemäß funktionierenden Grenze sorgfältig prüfen werde. Zur Haltung der DDR-Bevölkerung gegenüber den politischen Entwicklungen im Lande meinte Chemnitzer, trotz oppositioneller Positionen „eines ziemlich großen Teils der Bevölkerung habe die Masse eine sehr positive und feste Grundhaltung zu den Grundlagen von Sozialismus, Staat und Verfassung.“ DDR-Justizminister Heusinger erklärte laut 'adn‘, es werde demnächst eine Neufassung des Paragraphen „über den ungesetzlichen Grenzübertritt“ geben. Aus vielen Diskussionen der letzten Tage habe er die Notwendigkeit für weitere 30 Gesetze abgeleitet, unter anderem zu Verfahren vor Gericht, die nicht mehr vom Ministerrat beschlossen, sondern der Volkskammer vorgelegt würden. Unterdessen gründete sich in Ost-Berlin eine Arbeitsgruppe aus Journalisten und Film- und Fernsehschaffenden, die einen Entwurf für ein Mediengesetz erarbeiten will.
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